„Künstler sollen nach Grenzen suchen“

DEBATTE Die Kunstfreiheit steht im Grundgesetz, zugleich werden ihre Grenzen immer wieder diskutiert. Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard über interessante Künstler, Nacktheit und religiöse Gefühle

■ 54, geboren in Stuttgart, ist seit 2007 Intendantin auf Kampnagel. Zuvor war sie künstlerische Leiterin der „Sophiensaele“ in Berlin  Foto: dpa

taz: Frau Deflhard, wann hat auf Kampnagel zuletzt ein Künstler die Grenzen der Kunstfreiheit ausgetestet?

Amelie Deuflhard: Der letzte heiß diskutierte Fall war der „Human Zoo“: Das war eine Installation der Gruppe God’s Entertainment. Bei der wurden gesellschaftliche Außenseiter in Käfige gesperrt und das Publikum ist durch die Käfig-Installation gelaufen und hat sich mit denen unterhalten. Da war eine Gruppe von Asylanten drin, ein Strafgefangener, eine alleinerziehende Mutter, Sozialhilfeempfänger, also die Menschen, die in unserer Gesellschaft ausgeschlossen sind, wurden eingeschlossen. Da gab es über die Bild und die Mopo eine große Debatte. Über die seriöse Presse nicht.

Haben Sie das erwartet?

Ja. Aber es schreckt mich nicht ab, wenn ich denke, dass ein Projekt auch kritisch rezipiert wird. Ich verteidige immer die Kunst, wenn ich mit ernsthaften Künstlern arbeite. Ein Künstler kann die Grenzen der Kunstfreiheit natürlich ausloten, wenn es wirklich ein Künstler ist, und kann da auch ziemlich weit gehen.

Haben Sie sich schon mal Sorgen gemacht, die Künstler in Ihrem Haus könnten zu weit gehen?

Bei meiner Intendanzeröffnung hat God’s Entertainment nachts um 12 ein Stück gemacht, das hieß „Love Club“. Die Zuschauer konnten steuern, wie weit die Akteure auf der Bühne gehen bei der gegenseitigen Annäherung. Da habe ich schon gesagt: „Bitte keinen Live-Sex auf der Bühne, sonst bin ich tot, bevor ich angefangen habe.“ Ich wusste aber nicht, ob sie sich daran halten würden. Ich habe nicht gesagt: „Ihr dürft nicht.“

Suchen Sie als Programmmacherin gezielt nach Kunstprojekten, bei denen es um die Grenzüberschreitung geht?

Ich finde, dass Künstler nach Grenzen suchen sollten, klar. Und ich als Programmmacherin suche natürlich interessante Künstler. Die Grenzüberschreitung ist eine Möglichkeit, aber es ist natürlich nicht die einzige. Es ist eine interessante Frage, warum das tägliche Nacktfoto in der Bild noch nie einen Skandal erregt hat, während es schon seit zig Jahren einen Skandal erregt, wenn auf der Bühne jemand nackt ist.

Was bringt die eigentlich?

Nacktheit auf der Bühne ist eine Möglichkeit, den Körper anders anzukucken, jenseits von Verkleidung einfach den Mensch oder die Figur in ihrem So-Sein. Das ist ein künstlerisches Mittel, das schon seit den alten Griechen in der bildenden Kunst eingesetzt wird, aber auf der Theaterbühne ist das immer noch ein umstrittenes Mittel. Das nackte Cover-Girl in der Bild ist dagegen vollkommen in Ordnung.

Sie sind schon lange im Geschäft. Haben sich die Grenzen der Kunstfreiheit über die Jahre verschoben?

Es gibt keine Tendenz, dass die Kunst in den letzten 20 Jahren radikaler geworden ist. Aber durch die Liberalisierung der Gesellschaft in den letzten 50 Jahren ist die Zahl der Skandale gesunken. Also zum Beispiel christlich-religiöse Gefühle kann man in Deutschland nur noch schwer verletzen. INTERVIEW: KLAUS IRLER

„Grenzen der (Kunst-)Freiheit?“ Podiumsdiskussion mit Amelie Deuflhard, Bazon Brock, Bettina Steinbrügge (Kunstverein Hamburg) und Wolfgang Ullrich (Kunsthistoriker): 19.30 Uhr, Kampnagel; Eintritt frei