Vom Vermächtnis eines schmerzhaften Glücks

TANZ Ein Jahr nach seinem Tod wurde in Berlin und Erfurt an den großen amerikanischen Choreografen Merce Cunningham erinnert

Cunninghams Tänzer kommen barfuß, und doch wirkt das Stück wie ein Tanz auf Spitze

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wer dem Zufall begegnen will, muss sich bereithalten. In den Choreografien von Merce Cunningham ist der Weg eines Tänzers über die Bühne eigentlich nie eine Gerade, sondern ständig unterbrochen durch Abweichungen, kleine Wendungen hierhin und dorthin, manchmal nur mit einem Arm oder den Schultern, manchmal mit dem ganzen Torso vollzogen. Selbst in Drehungen und Sprünge sind diese Abweichungen eingebaut – als ob nichts so wichtig wäre, wie sich die Option offenzuhalten, jederzeit auch hierhin, dorthin oder in eine noch ganz andere Richtung aufzubrechen. Darin steckt ein Moment von Freiheit, aber es löst auch Befremden aus: Was treibt sie eigentlich an, die Tänzer?

Als Merce Cunningham vor einem Jahr starb, mit 91 Jahren, war er einer der letzten großen Avantgardisten des nördlichen Amerika. Ein Jahr zuvor hatte er „Nearly 902“ choreografiert, in dem sich seine eigene, gegen jede Belegung mit Bedeutung sperrende Tanzsprache mit einer klassischen Anmut paarte. Das Stück gehört nun zu seinem Vermächtnis: Zwei Jahre lang, so legte er fest, wird seine Company noch mit seinem Repertoire touren. In Erfurt war nun im Rahmen des Kunstfests Weimar „Nearly 902“ zu sehen, als einziges Gastspiel der Company in Deutschland 2010, verabredet schon vor seinem Tod. Auf dem Festival „Tanz im August“ in Berlin zeigten Boris Charmatz und Jérôme Bel, beide aus Frankreich, Arbeiten, die sich mit der Erinnerung an Cunningham beschäftigten. Eine gute Gelegenheit, sich ihm aus verschiedenen Perspektiven zu nähern.

„Nearly 902“ schimmert wie ein geheimnisvoller Solitär. Unterhalb der Bühne stehen an ihren Laptops zwei Musiker und der Komponist Takehisa Kosugi, die den Raum mit Geräuschen zerreißen, Beschleunigungen und Sogwirkungen erzeugen. Die zwölf Tänzer, die in Duos und Trios auftreten, manchmal auch als Solisten, wirken gegen die Macht dieser akustischen Ungetüme zwar fragil, aber nie ihnen ausgeliefert. Denn wie immer bei Cunningham entwickelt sich die Choreografie unabhängig von der Musik, die dennoch eigens für das Stück entstand.

Cunninghams Tänzer kommen barfuß, und doch wirkt „Nearly 902“ wie ein Tanz auf Spitze, nicht nur wegen der vielen Drehungen, sondern auch wegen der extremen Dehnungen und lange gehaltenen Arabesken, in die zwei oder drei Tänzer immer wieder gemeinsam hineingleiten. Die Lichtwechsel betonen zwar das Verstreichen der Zeit; aber der Tanz selbst, mit seinen Verlangsamungen, wehrt sich eher gegen ihren Fluss.

Die Angst, sich bei Cunningham ob der hohen Abstraktion und Verneinung aller Kontexte zu langweilen, ist immer da und groß die Erleichterung darüber, wie sehr man von der Konzentration und Präsenz der Tänzer mitgenommen wird. Von der Angst, sich bei diesem berühmten Künstler zu langweilen, und dann der Freude, wider Erwarten doch von seinem Freiheitsbegriff erfasst zu werden, erzählt auch Cédric Andrieux in dem Stück, das seinen Namen als Titel trägt und von Jérôme Bel inszeniert wurde.

Andrieux war 22, als er Mitglied der Cunningham Company in New York wurde, und er blieb acht Jahre, bis 2007. Das Cunningham-Kapitel ist das ausführlichste seiner autobiografischen Performance. Er steigt noch einmal in den immer gleichen Beginn des täglichen Trainings ein, das ihn in seiner Monotonie quälte, bis seine Blicke aus dem Fenster schweiften. Wo für den Meister in der Wiederholung meditatives Potenzial lag, fühlte er schmerzende Muskeln. Er führt vor, wie Cunningham, schon über 80 Jahre alt, die Bewegungen, die er am Computer entwickelt hatte, seinen Tänzern nahebrachte: erst die Schritte für die Beine ansagte, dann die Armpositionen, schließlich die Neigungen des Torsos. Wie abgeschnitten von der Wahrnehmung des eigenen Körpers sieht Andrieux bei diesen Ansagen aus, ein Mensch, der sich müht, mit einer Maschine, Cunninghams spezieller Software, zu konkurrieren. Die Angst, zu scheitern, sitzt ihm immer noch in den Knochen.

Doch trotz dieser Kritik an Cunningham und seinem Verhältnis zu den Tänzern beharrt auch Andrieux auf der Möglichkeit, die pure Erfahrung der Bewegung als Glück zu erleben. Auch wenn dies für ihn erst bei anderen Choreografen funktioniert hat.

Mit seinen biografischen Tänzerporträts hat Jérôme Bel ein eigenes Format für Tanzgeschichte auf der Bühne gefunden, fünf solcher Solos gibt es inzwischen. Im Raum der nüchternen und knapp gehaltenen Sprache ist der Tanz, der zitiert wird, nie selbstverständlich, sondern immer als Setzung erkennbar. Gerade das bringt die Kunst zu einer ungewohnten Kenntlichkeit.

Aufwendiger als die Arbeit von Bel war das „Musée de la danse“ von Boris Charmatz, der ebenfalls mit ehemaligen Cunningham-Tänzern, teils schon über 70 Jahre alt, gearbeitet hat. Seine Idee klingt bestechend: einen Fotoband über den Choreografen als Partitur zu nehmen und von einem festgehaltenen Augenblick zum nächsten zu gleiten. Doch in der Ausführung wirkte dies eher wie eine unfreiwillige Parodie, die das Zusammenhanglose der Bewegungssprache ausstellte. Die Elemente eines abstrakten Bildes, einmal durchgeschüttelt und neu hingewürfelt, ergeben eben doch nicht die beste Erinnerung an das Original. Hier legte sich tatsächlich der Staub der Vergangenheit auf den Posen ab.