grass, ss-beichte etc.
: Das falsche Buch

Irgendwo in Dänemark. Ein deutscher Starmoderator ist zur Pensionierung mit einem Liebhaberprojekt belohnt worden, einer Literatursendung. Gleich die erste Ausgabe behandelt einen brisanten Fall – einen dunklen Fleck in der Vergangenheit des deutschen Nobelpreisträgers. Der steht in einem dänischen Hotel als Interviewpartner bereit, und der Starmoderator hat instinktiv alles Bonvivanthafte aus seinem Wesen gestrichen.

Er fragt direkt: Warum erst jetzt? Der Nobelpreisträger antwortet schlicht: Weiß auch nicht! Mehrfach hakt der Starmoderator nach und erinnert an Gelegenheiten, an denen der Großschriftsteller gut seiner Jugendepisode bei der Waffen-SS hätte nachforschen können. Vor der Knesset hat er geredet, in die Bitburg-Debatte hat er sich eingemischt und dabei stets Entscheidendes ausgeblendet – warum? Immer wieder formuliert der Nobelpreisträger im Grunde nur diesen einen Satz: Er weiß es nicht. Wer nun richten will, möge eben richten, fügt er hinzu und verweist ansonsten auf sein neues Buch. Immerhin habe er darin, wenn auch spät, die Jugendepisode und seine „nachwachsende Scham“ darüber bekannt. Am Schluss steht der Schriftsteller, eingesponnen in sein buttiges, zwiebeliges, krebsiges literarisches Universum, ratlos, aber auch unerschüttert da. Dann folgt der Abspann.

Dass die erste Ausgabe von „Wickerts Bücher“ so wenig Neues brachte, lag nicht an dem erstaunlich uneitel agierenden Ulrich Wickert. Es lag an Günter Grass, der wenig Lust, vielleicht sogar Unvermögen offenbarte, ins Spiel der Interpretationen über sein 60-jähriges Schweigen einzusteigen.

Ein Ergebnis hatte die Sendung dennoch. Sosehr Wickert sein Leseexemplar auch mit Lesezeichen bewaffnet hatte, zeigte das Gespräch doch, dass nun das falsche Buch erscheint. Grass’ Jugendjahre, von ihm selbst redlich berichtet – nun ja. Aber was für ein Roman ließe sich rund um dieses Schweigen erzählen! Die Wickert-Sendung wäre gleich ein gutes erstes Kapitel: Nach der dort ausgestellten Ratlosigkeit wird der ganze Fall im Rückgriff aufgerollt. Selbstzweifel, komödiantisches Material, Auskünfte über menschliche Möglichkeiten zum Selbstbetrug, gesellschaftliche Rahmenbedingungen – alles drin. Entfernt kann man an Philip Roths „Der menschliche Makel“ denken, wo die Hauptfigur ihre schwarzen Vorfahren verleugnet, um Unikarriere machen zu können. Mit dem Autor Günter Grass wird für diesen Roman allerdings nicht zu rechnen sein. Er ist offensichtlich (irgendwie ja auch verständlich) zu verstrickt in die Geschichte, um ihre dramaturgischen Möglichkeiten zu erkennen. Aber vielleicht setzt sich ja jemand anderes ran.

DIRK KNIPPHALS