WELCHER STADTTEIL EIGNET SICH AM BESTEN, UM „FREIHEIT“ ZU LESEN?
: Jonathan Franzens neuer Roman und der lange Blick zurück

VON DIRK KNIPPHALS

Na ja. Zunächst habe ich – ganz gegen den Geist dieser Westberliner Kolumne – schon gedacht, der beste Ort, den neuen Franzen zu lesen, sei ein Café (oder ein Sofa) im Prenzlauer Berg. Am kommenden Mittwoch erscheint die deutsche Ausgabe, aber ausplaudern kann man ja schon mal, dass Jonathan Franzen in seinem Roman „Freiheit“ von Mentalitätslagen erzählt, die hierzulande gerne entweder mit dem Begriff Latte macchiato oder gleich mit der Ortsbezeichnung Kollwitzplatz assoziiert werden.

Es geht um eine Generation, die nicht mehr – wie noch ihre Eltern (mehr zu dieser Elternzeit bei Updike, Yates, Ford etc.) – in die Vororte gezogen ist, sondern stattdessen die verfallenen Bezirke der Innenstädte wieder flottgemacht hat. Sie hat den Altbaubestand renoviert, ist „grüner als Greenpeace“ (Franzen), überlässt nichts dem Zufall, weder bei den Kindern noch in der Ernährung, hat sich in den Schulen engagiert und Bürgerlichkeit in die ehemaligen Armenviertel gebracht. Nun langweilt sie sich aber inzwischen ein bisschen mit sich selbst.

Auch die Konflikte scheinen in Franzens Beispielstadt St. Paul nicht weit von denen in Berlin entfernt zu sein. Von etwas älteren Jahrgängen muss sich bei ihm die Generation nachsagen lassen, unpolitisch und nur noch am Wohl ihrer eigenen Kinder interessiert zu sein; außerdem gibt es den Vorwurf, sie hätte als Speerspitze der Gentrifizierung gewirkt. Wenn es sich bei Franzen nicht gerade um viktorianische Einzelhäuser handeln würde, würde man im Prenzlauer Berg wohl wirklich denken: Hey, der schreibt ja über hier! (Tatsächlich kennt Franzen Berlin gut und wurde auch schon mal bei Mister Hu gesichtet, aber das ist eine andere Geschichte.)

Zumindest ist das alles bei den ersten vierzig Seiten dieses Romans so. Aber je weiter man in ihm kommt (ich habe an diesem Wochenende noch ein paar hundert Seiten vor mir), denkt man: Ne, eigentlich passt doch ein ehemals Westberliner Stadtteil besser, zum Beispiel das gute alte Schöneberg. Das liegt an der Perspektive, in der Franzen erzählt. Nach dem Eingangskapitel, das die Hauptfiguren in einer sachlichen, äußeren Erzählhaltung einführt, schlägt der Roman einen langen Bogen zurück und rekonstruiert die innere Entwicklung dieser Generation, von den Schulzeiten noch in den siebziger Jahren an.

Dieser Blick zurück passt (noch) nicht recht in die Ostbezirke Berlins. So weit ist man halt rund um den Kollwitzplatz dann doch noch nicht. Hier ist man immer noch viel zu sehr in die eigene Gegenwart verstrickt. Jobfragen, Kinderfragen, Beziehungsfragen – solche Sachen. Die Distanzierung von sich selbst, die zur Frage führt, wie man wurde, was man ist, gelingt im alten Westen viel besser – nur dass bis jetzt aus irgendeinem seltsamen Grund alle deutschen Romane übers alte Westberlin beim Mauerfall 1989 enden. Aber das muss ja nicht auf Dauer so bleiben.

Eines macht „Freiheit“ sehr klar: wie wichtig diese wellenförmige Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, dass erst alle Menschen aus den Städten in die Neubaugebiete der Vororte ziehen wollten und dann aber (ab Mitte der Achtziger) viele Menschen zurück in die Innenstädte. Wahrscheinlich war diese Bewegung genauso wichtig wie 68, Anti-AKW o. Ä., zumindest für heutige Fourtysomethings. In seiner Jugend langweilte man sich in Einfamilien- oder Reihenhäusern, dann besetzte man Häuser (wenigstens im Geiste mit), und schließlich schossen überall Straßencafés aus dem Boden. So jedenfalls in groben Zügen die Geschichtsschreibung von einem Schöneberger Sofa aus.