Betr.: Bewerbung als Scharfrichter

BERUF Über 12.000 Menschen wurden in der Nazi-Zeit zum Tode verurteilt, häufig wegen kleinster Vergehen. Die Hinrichtungen blieben keineswegs geheim. Grund für hunderte „Volksgenossen“, sich um eine Stelle als Scharfrichter zu bewerben. Hier sind ihre Briefe

VON KLAUS HILLENBRAND

Bewerbungen als Scharfrichter“, so sind die Aktendeckel im Bundesarchiv beschriftet. Darin: hunderte Anschreiben. Mal sind sie an den Volksgerichtshof gerichtet, mal an das zuständige Reichsjustizministerium, bisweilen auch an den „Führer“ Adolf Hitler oder an Hermann Göring persönlich. Einige der Briefe sind kurz und knapp gefasst, andere ziehen sich über fünf oder gar sechs Seiten. Häufig ist ein Lebenslauf beigefügt, seltener ein Foto des Bewerbers. Die allermeisten Schreiben sind handschriftlich verfasst, in Sütterlin, Kanzleischrift oder mit kindlich anmutendem Gekrakel.

Aber eines ist ihnen allen gemeinsam: Es sind Dokumente der Verrohung.

Wie kam ein Mensch dazu, sich als Henker zu bewerben? So spekulativ diese Frage erscheint, einiges lässt sich doch anhand der Briefe klären. Zunächst einmal musste man überhaupt davon erfahren haben, dass die Todesstrafe im Deutschen Reich zunehmend vollstreckt wurde. Das aber konnten die Bewerber jeder Zeitung entnehmen. Zudem sorgten Plakatanschläge dafür, dass die „Volksgenossen“ umfassend davon Kenntnis erhielten, wenn ein Mensch getötet wurde.

Ganz im Gegensatz zu den Massenmorden an den Juden, die das Regime als „geheime Reichssache“ behandelte, war die Todesstrafe quasi Instrument der Volkserziehung. Ihre Bekanntgabe sollte einerseits eine abschreckende Funktion gegen Kriminelle wie politische Gegner erfüllen. Im Krieg diente sie der Disziplinierung an der Heimatfront und wurde entsprechend von willfährigen Richtern auch bei geringfügigen Vergehen wie Plünderungen nach Bombenangriffen oder dem Abhören ausländischer Rundfunkstationen gnadenlos verhängt.

Dazu äußerte Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofs: „Deutschland steht im Kampf um Ehre und Recht. Vorbild der Pflichterfüllung ist für jeden Deutschen heute mehr denn je der deutsche Soldat. Wer, statt ihm nachzuleben, am Volk sich versündigt, hat keinen Platz mehr in unserer Gemeinschaft. Nichtanwendung äußerster Strenge gegenüber solchen Schädlingen wäre Verrat am kämpfenden deutschen Soldaten.“

Andererseits dokumentierte die Todesstrafe die versprochene Hinwendung zum starken Staat, der seinen Bürgern wirkungsvollen Schutz vor kriminellen Elementen verspricht – eine Argumentation, die auch heute noch nicht völlig ausgestorben scheint.

1937 wurden noch 96 Menschen hingerichtet, 1941 waren es schon 1.292 und 1942 4.457 Menschen, die zum Tod unter der Guillotine verurteilt wurden – die im Übrigen nicht so genannt werden durfte, weil das ja französisch gewesen wäre. Stattdessen nannte man das Instrument „Fallbeilgerät“. Insgesamt 16.000-mal wurde die Todesstrafe von 1933 bis 1945 verhängt, etwa 12.000-mal wurde sie vollstreckt. Daneben starben etwa 20.000 Angeklagte durch Urteile von deutschen Kriegsgerichten, Zehntausende weitere fielen ohne jeden Gerichtsbeschluss der Gestapo zum Opfer, nicht zu reden von den Millionen Menschen, die im besetzten Osten systematisch ermordet wurden.

Geheimnisvolle Kaste

Angesichts dieser breiten Blutspur benötigte das Regime immer mehr Scharfrichter und ihre Gehilfen (siehe Text rechts). Doch öffentlich ausgeschrieben wurden diese Stellen niemals. Scharfrichter blieben Teil einer geheimnisvoll anmutenden Kaste, die ihren Nachwuchs weitgehend selbst rekrutierte.

So blieben sämtliche Initiativbewerbungen bis auf eine einzige Ausnahme ohne Erfolg – und die kam von einem Scharfrichtergehilfen. „Die Stelle eines Scharfrichters ist zurzeit besetzt und die Einstellung eines neuen Scharfrichters vorerst nicht zu erwarten. Vornotierungen von Bewerbern finden nicht statt“, so lautete die Standardantwort aus dem Reichsjustizministerium. Dessen ungeachtet versuchte mancher Bewerber immer wieder sein Glück.

Was waren das für Menschen, die Scharfrichter in einem verbrecherischen Regime werden wollten? Die allermeisten entstammten der Unterschicht und dem Kleinbürgertum. Handwerker waren häufig vertreten, darunter ganz besonders Schlachter. Sie stellten etwa ein Viertel aller Bewerber. Der Umgang mit dem Handbeil zählte schließlich ebenso zu ihrem Alltagsgeschäft wie in Strömen fließendes Blut. Mehrfach verwiesen Schlachter in ihren Bewerbungsschreiben denn auch auf diese besondere Qualifikation. Ob sie nun Tiere oder Menschen abschlachten sollten, schien den selbst ernannten Henkerskandidaten offenbar nur ein gradueller Unterschied.

Ähnlich dachten wohl auch die vergleichsweise vielen Krankenpfleger, die beim Justizministerium vorstellig wurden. Häufig verweisen deren Bewerbungen auf die gewonnene Erfahrung, Verstorbene gesehen zu haben und bei Leichenöffnungen zugegen gewesen zu sein. „Habe bei sehr vielen Operationen mitgewirkt“, schrieb etwa Franz A. aus Swinemünde. Dass sie als Scharfrichter das genaue Gegenteil zu tun gedachten als als Krankenpfleger – nämlich Menschen umzubringen statt zu heilen –, kam diesen Männern nicht in den Sinn.

Die Mehrheit der Bewerber waren freilich weder Metzger noch Pflegekräfte oder Totengräber, sondern sie entstammten ganz normalen Lehrberufen. Es meldeten sich Friseure genauso wie Schlosser, Dachdecker und Tischler waren ebenso unter ihnen wie Anstreicher oder Gärtner und ein Eisenbahner. Arbeiter und Akademiker blieben deutlich unterrepräsentiert.

Verkrachte Existenzen

Das den Scharfrichter umgebende Geheimnisvolle mochte ein Grund für manche Bewerbung gewesen sein. Immer wieder tauchen Formulierungen auf, die auf „starke Nerven“ und „Verschwiegenheit“ verweisen.

Über die Motive der Bewerber lässt sich einiges aus den Schreiben lesen. Vor Kriegsbeginn meldeten sich häufiger Arbeitslose, die, zutiefst verzweifelt, auf der Suche nach einer neuen Existenz waren. Diese Gruppe überschneidet sich mit jenen, die man als verkrachte Existenzen umschreiben kann: Da ist der ehemalige Gerichtsvollzieher, der vor Jahren wegen eines Totschlags in Haft saß und aus dem Beruf ausscheiden musste – „wurde immer wieder gehänselt und tätlich angegriffen“ –, der Musiklehrer, der auf keinen grünen Zweig kommt, oder der Geschäftsinhaber, dessen Laden die Überschuldung droht. Eigene Verantwortung für ihre Misere kann keiner von ihnen erkennen, Ursache allen Elends sind unglückliche Umstände, Krankheit, der politische Gegner oder eine Kombination aus allen. „Durch all die Kampfjahre hat mein Geschäft außerordentlich gelitten; umso mehr, als dass ich gegen Spartakus und Kommunismus tatkräftig kämpfte“, begründete ein Geschäftsmann aus Duisburg seine Notlage. Der Beruf des Scharfrichters versprach einen Ausweg daraus.

Nach Kriegsbeginn meldeten verstärkt Soldaten mit niedrigeren Diensträngen ihr Interesse an. Einige Bewerber machten deutlich, dass sie primär nach einem ungefährlichen Posten abseits der Front suchen. Andere waren verwundet und benötigten deshalb einen neuen Zivilberuf. Und ein Berufssoldat machte schon Pläne für seine Zukunft, wenn er 1947 (!) aus der Wehrmacht entlassen werden würde.

Dass keiner der Bewerber Zweifel an der Todesstrafe äußerte, versteht sich von selbst. Überraschend aber ist, dass die potenziellen Henker keineswegs alle ideologische Motive für ihren Wunschberuf nannten. Zwar finden sich in vielen Briefen Hinweise auf die Mitgliedschaft in NSDAP, SA oder SS, verbunden mit der Bemerkung, gerade „alte Kämpfer“ müssten doch eine Chance erhalten. Das lässt sich freilich eher als Versuch werten, die eigenen guten Beziehungen als Grund für einen positiven Bescheid ins Feld zu führen. Nur wenige gaben ihrem Wunsch Ausdruck, für die Vernichtung der Gegner Adolf Hitlers Sorge tragen zu wollen, und nur ein Mann erhoffte sich explizit, Juden umbringen zu dürfen.

Es waren eben ganz normale deutsche „Volksgenossen“, die sich da bewarben. Wohl überzeugte Anhänger des Regimes, aber nicht unbedingt fanatische Rassisten. Wohl häufiger Männer mit beruflichen Problemen, aber keineswegs Hasardeure. Familienväter mit glücklichen, „erbgesunden“ Kindern. Allesamt „Arier“, versteht sich. Gewiss manche Spinner unter ihnen, aber in der Regel doch gestandene Handwerker, die den Verdacht weit von sich gewiesen hätten, dass mit ihrer Vorstellungswelt irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte. Anderen Menschen den Kopf abzuschlagen schien ihnen ganz selbstverständlich zu sein. Etwa so wie Haare schneiden.

Klaus Hillenbrand, 53, ist Chef vom Dienst der taz und Buchautor. Zuletzt erschien sein Buch „Der Ausgetauschte: Die außergewöhnliche Rettung des Israel Sumer Korman“ im Scherz Verlag