Der Falschschicker von Obernburg

Ein Besuch bei Timo Rehm, dem milliardenschweren Erfinder der Wrongies im Internet

„Denken Sie an die Gestörten, die in jeder Firma arbeiten und die Belegschaft terrorisieren“

Sein Lächeln wirkt verhalten, er selbst scheint beinahe unsichtbar zu sein. So als wolle er gleich wieder untertauchen. Selten nur gibt er ein Interview, über sein Privatleben weiß man praktisch nichts. Umso sensationeller ist es, dass der scheue neue Star des Internets einem Gespräch zugestimmt hat. Wir treffen den Erfinder der Wrongies, den Internet-Revolutionär und Milliardär Timo Rehm.

Das „Kontor“, wie er sein riesiges, ins Zwielicht getauchte Büro am Stadtrand von Bielefeld nennt, ist dem Film „Blade Runner“ nachempfunden. Das blendende Sonnenlicht hinter dem massiven Schreibtisch wird von einer langsam nach unten fahrenden Jalousie abgedunkelt. Auf einer Stange sitzt still eine Eule, sie ist tatsächlich echt. „Sie kommt aus China“, erklärt Timo Rehm und lächelt leise. „Nicht schlecht für einen Jungen aus der fränkischen Provinz, nicht wahr?“, sagt der 34-Jährige, und Stolz schwingt mit in seiner Stimme.

Wer kennt sie nicht, die Legende des Internets? „Das W-Wunder“, wie ihn der Spiegel taufte. Zum „Mr. Wrongie“ ernannte ihn die Financial Times, und als „The E-Man“ zierte er sogar das Cover des Time Magazine. Timo Rehm hat ein Vermögen gemacht mit einer simplen Erfindung: dem Wrongie. „Wie alle großen Geschäfte basiert das Wrongie auf einer ganz einfachen Idee“, erklärt Timo Rehm.

Wrongies, das muss man heute eigentlich niemandem mehr erklären, sind jene Mails, die absichtlich fehlgeleitet werden und ganze Leben verändern bei den Empfängern und besonders bei den Absendern. Im Gegensatz zu Spam-Mails haben Wrongies einen konkreten Zweck. Ein Absender schreibt eine Mail, die geschäftlich oder privat ist, und nach einem geheimen Verfahren, das Timo Rehm entwickelt hat und das dem Arbeitsprinzip von Google ähnelt, wird die Mail an einen Empfänger gesandt, der die Mail viel besser nutzen kann als der ursprünglich vorgesehene Adressat. Diese Kommunikationsoptimierung hat ihrem Erfinder Milliarden eingebracht, selbst das Platzen der Dot-Com-Blase Ende der Neunzigerjahre überstand er schadlos. Denn alle wollen falsche E-Mails. Es ist wie eine Sucht.

„Denken Sie an den üblichen Bürotratsch oder an die Gestörten, die in jeder Firma arbeiten und die gesamte Belegschaft terrorisieren“, erläutert Rehm. „Früher nannte man so etwas im Slang der Internet-Community: ‚Kranke Psycho-Kacke‘ oder kurz KPK. Heute existiert so etwas nicht mehr, wir haben es an die richtigen Falschen geschickt.“ Wie viele Freundschaften oder Geschäftspartnerschaften er gestiftet hat, weiß Rehm nicht mehr. „Bestimmt tausende“, winkt er bescheiden ab.

Dabei hat alles ganz einfach begonnen, in der beschaulichen Heimat von Timo Rehm, im fränkischen Obernburg. Noch heute ist er in dem kleinen Ort am Main als „Der Falschschicker“ bekannt. Schon früh nämlich, erzählt Rehm, war ihm eins aufgefallen: Als ob er ein großes „I“ auf der Stirn kleben hätte, kamen Touristen, die durch die Stadt liefen, ständig auf ihn zu und wollten Informationen. Meist fragten sie ihn nach dem Weg, und bald schon erkannte der junge Timo, dass in den Fragen bereits die falsche Antwort lag. Denn viel interessanter als die Orte, nach denen ihn die Touristen fragten, waren Orte, die er selbst auswählte. Und so schickte er die Fremden in immer neue Richtungen und an immer neue Orte, nur nicht dorthin, wohin sie ursprünglich wollten. „Noch Jahre später bekam ich Dankes-Postkarten aus aller Welt“, sagt Rehm und weist auf eine Art Reliquienwand. „Die weiteste kam aus Australien. Alles glückliche Menschen“, meint Rehm, und jetzt versteht man, dass CNN ihn einmal „den Jesus des Internets“ nannte. „Der falsche Weg ist das Ziel“, zitiert er sein Firmencredo. Als „abseitiges Finden“ bezeichnet er seine Technik, die er nach einer Weile perfektioniert hatte und übertragen sollte auf ein noch viel komplizierteres Wegesystem als das seiner kleinen Heimatstadt Obernburg: das Internet.

Doch wie alle Visionäre scheint die Welt für Timo Rehm zu klein zu sein. Sein nächster Plan weist in den Weltraum. Rehms Firma „Brand“ arbeitet an einem Satellitensystem, das aus dem Weltall Spuren der Vergangenheit aufzeichnet. Durch DNS-Vergleiche lassen sich komplette Bewegungsprofile von Menschen erstellen. Damit können auch erstmals ungeklärte historische Fragen beantwortet werden, ob jemand zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen ist. Ein faszinierendes Verfahren, mit dem Timo Rehm sich einen alten Traum verwirklicht: Seine eigenen Weg zurückzuverfolgen. Denn er selbst war immer sein eigener Prototyp. Niemanden hat Timo Rehm so oft falsch geschickt wie sich selbst. Deshalb wusste er lange nicht, woher er kommt. „Und wer nicht weiß, woher er kommt, weiß auch nicht, wohin er geht“, schildert der Meister des Falschschickens seine ganz persönliche Tragik. „Dass ich überhaupt inzwischen herausgefunden habe, dass ich aus Obernburg am Main stamme und dort angefangen habe, ist für mich schon ein großer Erfolg.“ Ein Erfolg, den der sanfte Missionar mit allen Menschen teilen will. Aus diesem Grund hat er uns eingeladen: Er will den Menschen ihre Vergangenheit zurückgeben. „Berichten Sie denen da draußen: Von mir bekommen sie ihre eigene Geschichte. Eine Geschichte, die hundertprozentig stimmt.“

Mit einem festen Händedruck verabschiedet sich Timo Rehm von uns – und kann es nicht lassen: „Zum Fahrstuhl geht es da lang!“, weist er uns den falschen Weg. Entschuldigend lächelt er wieder dieses unglaublich sanfte und souveräne Lächeln eines Mannes, der weiß, dass er die Welt verbessert hat. „Moment!“, ruft er und überreicht uns ein Geschenk: eine fein geschwungene Flasche Mirabellenschnaps. „Rehmbrand“ steht auf dem Ettiket. „Selbstgebrannt. Aus Obernburg. Der beste der Welt!“, sagt Timo Rehm, und wir glauben ihm jedes Wort. MICHAEL RINGEL