NACH DER SOMMERPAUSE: ANGELA MERKEL BOT 90 MINUTEN GRAU IN GRAU
: Keine Machtworte. Aber Machtkalkül

Öffentliche Soloauftritte von Politikern tragen eine große Versuchung in sich. Sie verleiten insbesondere Kanzler und Parteichefs dazu, mit herrschaftlichen Gesten, populistischen Versprechen und nach innen gerichteten Machtworten die Fesseln des öffentlichen Amtes zu sprengen und die komplizierte Wirklichkeit hinter sich zu lassen. Gerhard Schröder war ein Meister dieses zweifelhaften Fachs politischer Öffentlichkeitsarbeit. Angela Merkel hat bei ihrer gestrigen Vorstellung vor der Bundespressekonferenz dieser Versuchung widerstanden. Das ist, obwohl unendlich langweilig, nicht das Schlechteste.

Dabei hatte die politische Sommerpause, die jetzt zu Ende geht, genug Anlässe für autoritäre Kraftmeiereien jeder Art geboten: Vom Lebenslügen-Vorwurf des CDU-Vizes Jürgen Rüttgers über die putzigen Urlaubsratschläge des Finanzministers Peer Steinbrück bis hin zu den wilden Vorstößen des Verteidigungsministers Franz Josef Jung hinsichtlich der Aufgaben deutscher Soldaten im Libanon. Von der Kanzlerin jedoch war kein Machtwort zu hören, kein ironisches Abmeiern eines ihrer Minister, keine Illusion über die Schwierigkeit der Aufgaben, vor denen die große Koalition steht. Angela Merkel bot, auch wenn sie ein Jackett in Orange trug, 90 Minuten grau in grau: nüchtern, ernsthaft, defensiv, verhandlungsbereit. Sie räumte sogar ein, auf einige neue Fragen – wie beispielsweise den Umgang einer freiheitlichen Gesellschaft mit dem islamistischen Terror – noch keine abschließende Antwort zu haben.

Dieses ehrliche Bekenntnis zu einer Politik der kleinen Schritte erscheint vielen als ungenügend und unsexy. Das mag so sein – aber dieser Pragmatismus passt wenigstens in eine Gesellschaft, die immer weiter auseinanderdriftet und in der große politische Würfe nur noch um den Preis von intellektueller Vereinfachung oder sozialer Verwerfung zu haben sind. Und trotzdem haftet Merkels Offenheit, ihrer Suche nach den scheinbar besten Lösungen etwas Unaufrichtiges an: Ihre Haltung ist im Kern taktisch motiviert. Sie ist Ausdruck ihrer Schwäche. Deswegen ist ihr die Machtfrage immer wichtiger als die einzelne Sachfrage.

Die Kanzlerin und Parteichefin scheut die Auseinandersetzung, das hat man zuletzt am faulen Gesundheitskompromiss mit den CDU-Ministerpräsidenten gesehen. Sie führt die Debatten um gesellschaftliche Kernfragen fast immer defensiv, nie offensiv. Merkel legt sich kaum fest. Das erspart ihr die Antwort darauf, ob das, was die Regierung tut, zeitgemäß und modern ist, ob es den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht wird. Diese Frage aber ist wichtiger als die nach den kleinen oder großen Schritten. JENS KÖNIG