Erst mehr Freiheit – dann mehr Gerechtigkeit

Merkel verteidigt vor dem heutigen CDU-Grundsatzkongress die radikalen Beschlüsse des Leipziger Parteitages

Merkel: „Wenn wir mehr Gerechtigkeit haben wollen, müssen wir mehr Freiheit wagen“

BERLIN taz ■ Der heutige Rede ihrer Parteichefin auf einem CDU-Kongress in Berlin wird für die Christdemokraten um einiges wichtiger sein als der gestrige Auftritt der Kanzlerin vor der Bundespressekonferenz. War Letzteres eher eine Lockerungsübung der Regierungschefin nach der Sommerpause, soll die Parteiveranstaltung das einlösen, was sich die CDU seit Monaten von ihrer Chefin wünscht: für Klarheit und Orientierung zu sorgen. Angela Merkel wird, wie es sich für einen Grundsatz-Programmkongress gehört, eine Grundsatzrede halten. Ob die Grundsätze der CDU und ihrer Parteichefin hinterher klarer sein werden, darf man getrost bezweifeln. Zu sehr steht der Kongress im Zeichen des taktischen Kalküls.

Die Idee zum Kongress stammt von Generalsekretär Ronald Pofalla. Den immer wieder erhobenen Vorwurf, die Partei setze sich nicht mit den Gründen für ihr schlechtes Abschneiden bei der Bundestagswahl 2005 auseinander, konterte Pofalla mit dem Hinweis, die CDU arbeite doch am neuen Grundsatzprogramm. Für diese Arbeit notierte die Grundsatzkommission unter Leitung von Pofalla ein ganzes Dutzend gewichtiger Fragen zur Zeit, wie etwa die nach der christdemokratischen Identität oder dem sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Zu diesen acht Leitfragen wird der Kongress heute in verschiedenen Foren diskutieren – aber erst, nachdem Merkel gesagt hat, wo es in Zukunft langgehen soll.

Das wird wohl auf ein vorsichtiges, aber entschiedenes Bekenntnis zu den Beschlüssen des Leipziger Parteitages von 2003 hinauslaufen. Dieser Parteitag, der unter anderem eine radikale Vereinfachung des Steuersystems und eine Kopfpauschale als Krankenversicherung beschloss, gilt als Chiffre für das einstige Image Merkels als Radikalreformerin. Obwohl einige führende CDU-Politiker in diesen Beschlüssen ein Abschleifen des sozialen Profils und den Grund für das Wahldebakel 2005 sehen, verteidigte Merkel gestern diesen Kurs. Der Parteitag sei eine „entscheidende Weggabelung“ gewesen und habe „neue Antworten“ geliefert. Damit meinte sie die Grundphilosophie: weniger Staat. „Wenn wir mehr Gerechtigkeit haben wollen“, sagte Merkel, „müssen wir mehr Freiheit wagen.“ JENS KÖNIG