Die doppelte Merkel

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Wenn Gerhard Schröder noch Kanzler wäre, würde er … So begannen in den vergangenen Wochen viele Bemerkungen von Politikern und Journalisten, die Angela Merkel Führungsschwäche vorwarfen. Rufe nach einem „Machtwort“ wurden laut. Auch gestern, bei ihrem ersten Soloauftritt vor der Bundespressekonferenz, wurde Merkel mehrmals auf Schröders autoritären Politikstil angesprochen. „Ich vergleiche mich nicht mit anderen“, sagte Merkel dazu. „Ich bin ich.“

Selbstbewusstsein zeigen und sich von Kritik nicht irritieren lassen – das hatte sich Merkel offenkundig vorgenommen, als sie zu „aktuellen Fragen am Ende der Sommerpause“ Stellung nahm. Etwa der, wie sie den Tiefstand der Koalitionsparteien in den Meinungsumfragen erkläre. „Sich nach Umfragen zu richten“, sagte Merkel, „wäre völlig falsch.“ Sie betreibe Politik nach anderen Maßstäben. „Ich pflege auf die anstehenden Herausforderungen die Antworten zu geben, die ich für richtig halte.“ Ich, ich, ich – Merkel tat manchmal so, als würde sie allein regieren. Und doch schien es, als säßen zwei verschiedene Politikerinnen auf dem Podium: zum einen die Kanzlerin, zum anderen die CDU-Chefin. Merkel schwankte immer wieder zwischen diesen beiden Rollen. Am Ende gab es zwei Botschaften.

Die Bundeskanzlerin Angela Merkel findet: Die große Koalition ist gut und bringt das Land voran. „Die Wende zum Besseren ist geschafft“, sagte sie über die ersten neun Monate der Regierung. Die Konjunktur ziehe an, „Deutschland wird nicht mehr als kranker Mann Europas wahrgenommen.“ Betont bescheiden erklärte sie, das sei nicht allein auf die Regierungsübernahme durch die CDU zurückzuführen. So habe sich ihr Vorgänger Schröder mit seiner Agenda 2010 „um Deutschland verdient gemacht“. Am aktuellen SPD-Chef Kurt Beck schätze sie seine Verlässlichkeit und sein Problembewusstsein, etwa bei der Bedrohung durch den Terrorismus. Nicht nur bei der inneren Sicherheit sei die große Koalition „eine einzigartige Chance, aus alten Grabenkämpfen herauszukommen“. Auch die Föderalismusreform oder die Einführung der Rente mit 67 hätte man in einer anderen Konstellation kaum geschafft. So harmonisch sollen auch Mehrwertsteuererhöhung und Gesundheitsreform wie beschlossen umgesetzt werden. Selbst für Peer Steinbrücks vielkritisierte Forderung, für die Rente auf Urlaub verzichten, fand sie milde Worte. Es sei zwar „nicht so günstig“, wenn Politiker zur persönlichen Lebensplanung der Bürger „konkrete Empfehlungen“ abgäben. Richtig sei aber die Meinung des Finanzministers, dass mehr Eigenengagement für die Altersvorsorge nötig sei. Dies, sagte Merkel, „teile ich vollkommen“.

Trotz aller Lobeshymnen auf die gedeihliche Zusammenarbeit in der Koalition gibt es aber auch noch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel. Und als solche setzte sie ganz andere Zeichen. Merkel bekannte sich ausdrücklich zu dem radikalen Reformprogramm, das die CDU in Leipzig 2003 beschlossen hatte. Den Wunsch des CDU-Arbeitnehmerflügels nach einer „Generalüberholung“ der Leipziger Beschlüsse wies sie zurück – und Parteivize Jürgen Rüttgers in die Schranken. Der NRW-Ministerpräsident hatte es als „Lebenslüge“ der CDU bezeichnet, dass Steuersenkungen zu mehr Arbeitsplätzen führten. Da sei sie „dezidiert anderer Meinung“, sagte Merkel – und sprach sich erneut für niedrigere Unternehmensteuern aus. Nur so könne Deutschland international wettbewerbsfähig bleiben. „Die allergrößte Lebenslüge“, hielt sie Rüttgers entgegen, „wäre es, zu glauben, wir müssten nichts oder nur wenig verändern in Deutschland.“

Doch je konkreter die Fragen, desto schwieriger die Doppelrolle. Zur Lockerung des Kündigungsschutzes sagte Merkel, „aus Sicht der CDU“ könne man sich da mehr vorstellen als geplant, doch seien „die Spielräume hier in der Koalition gering“.