Albtraum in Blau

EM-QUALIFIKATION II Frankreich interpretiert das 0:1 gegen Weißrussland als nationales Krisensymptom

PARIS taz | Es begann so feierlich, wie nur eine aus tausenden patriotischen Kehlen angestimmte „Marseillaise“ klingen kann. Auch die Spieler dieser neu formierten französischen Nationalmannschaft sangen so begeistert die martialische Hymne mit, als wollten sie schon vor dem Anpfiff das peinliche Fiasko bei der Weltmeisterschaft in Südafrika vergessen machen. Auf der VIP-Tribüne des Stade de France stimmte der Präsident der Republik in den Refrain „Allons enfants de la Patriiiie“ ein. Sarkozys Miene war dabei ernst, aber demonstrativ hoffnungsvoll. Denn gegen Weißrussland, im ersten Spiel der EM-Qualifikation, stand nichts weniger als die Ehre der Nation auf dem Spiel.

Doch sie half nichts, die nationale Überhöhung dieses Fußballspiels. Schuld daran, dass die Franzosen wieder nicht siegen konnten, war nicht bloß der glänzende Torwart aus Weißrussland. Schuld war auch nicht Sergej Kisljak, der in der 86.Minute zum 0:1 für die Gäste traf. Schuld waren die Franzosen selbst, die fantasielos anrannten gegen schrecklich defensive, aber gut organisierte Weißrussen. Wie gelähmt schien die junge Mannschaft von der Aussicht, das Drama in Blau zu einer tristen Fortsetzungsgeschichte auszuweiten.

Die folgenden Kommentare waren entsprechend grausam. So hoch die Erwartungen an die neue Spielergeneration war, die der neue Coach Laurent Blanc aufgeboten hatte, so vernichtend war das Urteil. Diese Franzosen hätten „alles verlernt“, meinte Le Progrès. „Nachsicht ist fehl am Platz“, schrieb Le Figaro. Man müsse sich wohl damit abfinden, dass Frankreich unter den Fußballnationen für längere Zeit in der zweiten Liga spielen werde, prognostizierte Le Monde.

Nicolas Sarkozys Anwesenheit machte es deutlich: Gegen Weißrussland ging es um mehr als nur um Fußball. Frankreich bangt um seine Größe. Es geht die Angst um vor einem langfristigen Abstieg. Die Schwäche des französischen Fußballs wird in der Grande Nation wahrgenommen als Symptom einer tieferen Existenzkrise.

Entsprechend radikale Maßnahmen waren ergriffen worden. Nach dem französischen WM-Debakel wurde Tabula rasa gemacht: Spieler wie Anelka oder Ribéry wurden zu Unpersonen erklärt und vom Verband suspendiert. Der unbeliebte Trainer Raymond Domenech wurde ersetzt durch Blanc, einen der Helden mit Weltmeistertitel von 1998. Der sollte dann mit lauter Neulingen den Neuanfang vollbringen. Doch der emotionale Bruch zwischen den enttäuschten Fans und „Les Bleus“ ist noch lange nicht verheilt. Vor dem Spiel gegen die Weißrussen war gar befürchtet worden, das Stade de France in Paris könnte halb leer bleiben. Dem kamen die Organisatoren mit freundlicher und mahnender Unterstützung der Sportministerin zuvor, indem sie die Plätze mit Jugendlichen füllten, die dafür bloß die blau-weiß-rote Fahne schwenken mussten.

Nun steht die nächste Bewährungsprobe bevor. Morgen geht es in Sarajevo gegen Bosnien, und die meisten Experten sehen eher schwarz als himmelblaue Hoffnungsschimmer für „Les Bleus“. Der einzige Trost, den sie finden: Tiefer kann der französische Fußball nach diesen Ernüchterungen nun auch nicht mehr fallen. Die Fans blasen Trübsal. Einer von ihnen meint auf dem Internetforum „Le Post“ fatalistisch: „Werft keine Steine! ‚Les Bleus‘ sind nicht mehr, was sie einst waren. Sie machen, was sie können. Und das ist nicht viel. Machen wir uns keine Illusionen. Mit den Spielern, über die Laurent Blanc verfügt, hat es keinen Wert, unrealistische Ziele zu fixieren.“ Spärlich gesät sind die Optimisten, die noch glauben, die französische Fußballnation werde bald aus diesem Albtraum vom unaufhaltsamen Niedergang aufwachen. RUDOLF BALMER