Chancengleichheit sieht anders aus

In armen Vierten besuchen deutlich weniger Kinder Kita oder Vorschule als in den übrigen Stadtteilen. Die SPD-Opposition warnt denn auch vor „neuen Pisa-Verlierern“. Heute debattiert die Bürgerschaft über das Thema

Als Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) im Juli ihre positive Kita-Bilanz vorlegte, verblüffte sie mit einer unmöglichen Zahl. 101,7 Prozent der drei- bis sechsjährigen Hamburger Kinder würden entweder in Kita oder Vorschule betreut. „Die über hundert Prozent“, erklärte ihr neuer Staatsrat Dietrich Wersich, kämen zustande, weil auch „über sechsjährige Kita-Kinder, die noch nicht zur Schule gehen“, in die Kita-Statistik Einzug hielten. Auf Nachfrage gab die Sozialbehörde dann preis, dass die reale Zahl der betreuten Kinder dieser Altersgruppe nur 87 Prozent beträgt.

Dies allein scheint nicht zwingend tragisch, mag es doch durchaus Kinder geben, die im Elternhaus genügend Bildungsanregungen erfahren. Doch die SPD-Jugendpolitikerin Andrea Hilger hat inzwischen mit einer großen Anfrage nachgehackt und kommt zu der Erkenntnis, dass vor allem ärmere Kinder vom Kita-Besuch ausgeschlossen sind. Sie fragte nach den Werten der „Stadtteile mit sozialen Problemlagen“, zu denen der Senat Billstedt, Billbrook, Dulsberg, Horn, Jenfeld, Lohbrügge, Lurup, Rothenburgsort, St. Georg, St. Pauli, Steilshoop, die Veddel und Wilhelmsburg zählt. Ergebnis: dort ist die Zahl der Kinder, die keine vorschulische Bildungseinrichtung besuchen, mit 20 Prozent fast doppelt so hoch.

„Hier werden die nächsten Pisa-Verlierer erzeugt“, sagt Sozialwissenschaftlerin Hilgers, die sich tief ins Zahlenwerk eingegraben hat. So splittet sie noch einmal die Jahrgänge auf und vergleicht die Werte der übrigen Hamburger Stadtteile mit denen der armen. Ergebnis: auf der Sonnenseite der Stadt sieht es im Jahr vor der Einschulung tatsächlich nach einer Vollversorgung aus, so besuchen dort 99 Prozent der Fünfjährigen entweder Kita oder Vorschule, von den Vierjährigen sind neun Prozent und von den Dreijährigen 22 Prozent ganztags bei Mama oder Papa zu Hause.

Sehr viel höher sind die Werte in den 13 „belasteten“ Stadtteilen. Hier besuchen 30 Prozent der Dreijährigen und 18 Prozent der Vierjährigen keine Kita. Und unter den Fünfjährigen, die das letzte Jahr vor der Einschulung dringend nutzen müssten, bleiben immer noch zwölf Prozent Kita und Vorschule fern.

Zwar gibt es seit August für alle fünfjährigen Kinder, die Sprachförderbedarf haben, an vier Tagen zweistündige Pflichtförderkurse. Hilgers würde es jedoch sehr viel sinnvoller finden, wenn diese Kinder, wie bis 2002 üblich, einen Kita-Platz bekämen. Bis 2002 hatten Kinder mit „Integrationsbedarf“ sogar noch Anspruch auf einen Ganztagsplatz. Seit dies nicht mehr gilt, sank die Zahl der Ganztagsplätze in den 13 „belasteten Quartieren“ um ein Drittel, wie Hilgers errechnet hat.

Auch bei den Krippenplätzen für die unter Dreijährigen und den Hortplätzen für Schulkinder „klafft die Schere zwischen der Sonnen- und Schattenseite weit auseinander“, so Hilgers. Die „belasteten Quartiere“ hätten heute ein Drittel weniger Krippenplätze und ein Fünftel weniger Hortplätze als die übrigen Viertel der Stadt.

Das Thema Kinderarmut beschäftigt heute Nachmittag die aktuelle Stunde der Bürgerschaft. Anlass ist eine Analyse in der Zeit von Anfang August, die zu dem Fazit gelangte, dass die Hansestadt zwar boomt, doch auch die Zahl der Kinder wächst, „die diesen Reichtum nur von fern kennen“. Kaija Kutter