Die große Gottlosigkeit

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Es ist fatal für die jungen britischen Muslime, die eigenen Wurzeln zu suchen, wenn Krieg ist

Es gibt die kurzen und die langen Sätze. Es gibt die kurzen und die langen Gedanken. Und natürlich gibt es die kurzen und die langen Bücher. In den Zeitungen stehen meistens die kurzen Sätze und die kurzen Gedanken – etwa vom „Ende der Toleranz“. Dabei ist am letzten Freitag auch noch das Antidiskriminierungsgesetz in Kraft getreten.

Ein generelles Flugverbot für männliche Muslime zwischen fünfzehn und fünfzig in Großbritannien wäre schon diskriminierend für die männlichen Muslime. Der Chef der British National Party hat sich das ausgedacht. Die ganz Rechten haben eben die allerkürzesten Gedanken. Es soll alles wieder so sein, wie es einmal war. Möglichst wie es war vor der großen Unordnung, die wir fast nicht mehr beherrschen, aber noch immer mit viel Ordnungssinn „die Moderne“ nennen. Egal mit wie viel Vorsilben. Es soll so sein, wie es einmal gemeint war. Und junge Briten, die Londoner U-Bahnen und amerikanische Flugzeuge in die Luft sprengen: das ist Unordnung höchsten Grades, das kann nie gemeint gewesen sein.

Gemeint – von wem eigentlich? Wer modernen Sinnes ist, zögert mit der Antwort. Vielleicht kann nur der Papst Gottes Name ganz unbefangen aussprechen, schon weil die moderne Welt mit allem Stolz auf ihre Toleranz ein einziger Abfall von Gott ist – eine Selbstermächtigung ohnegleichen, die große Gottlosigkeit, die sich den Namen Zivilisation gegeben hat. Und wir selbst sind alle irgendwie an diesem Abfall beteiligt. Aber auch, wer nicht an Schöpfungsordnungen glaubt – an irgendeine Grund-Folge-Beziehung glaubt er doch, die Londoner Augusttage machten das wohl jedem deutlich.

Manche Kommentare stellten es mit einem Unterton von Einverständnis fest: Terror aus der eigenen Mitte, nicht importiert aus den Bergen Afghanistans, nicht gewachsen aus palästinensischem Flüchtlingselend, nicht einmal in den muslimischen Verlierermilieus Londons, so wie der Terror aus der Banlieue von Paris kam. Es klang wie stiller Triumph über die ewigen Sozialarbeiter der Erkenntnis. Über die Gutwilligen im Geiste, die noch fragen „Was haben wir falsch gemacht?“, wenn sie neben einem Sprengstoffattentäter im Flugzeug sitzen.

Zwei akut missvergnügte Autoren, letzte Woche in der Süddeutschen Zeitung, stimmten von anderer Seite ein in den Genug-gedacht-Tenor. Denn solange wir über die Vergangenheit unserer intellektuellen Gerontokratie reden (Grass grassiert), haben die wirklichen Probleme von heute (Nahostkrieg!, Londoner Beinahe-Anschläge!) und die wirklichen Autoren von heute (sie selbst?) keine Chance, glauben sie. Und dann folgt Eva Menasses und Michael Kumpfmüllers politisches Bekenntnis 2006: „Wo aber waren die deutschen Intellektuellen, die gesagt hätten: … Wir sind auf Israels Seite, nicht, weil Nazideutschland sechs Millionen Juden ermordet hat, sondern weil Israel ein demokratischer Staat ist, mit Feinden, die nicht nur ihn, sondern alle demokratisch verfassten, westlich orientierten Gesellschaften vernichten wollen?“

Es geht, sagen beide, nur um eins: „Demokratie versus mörderischen Fanatismus, um Aufklärung versus Mittelalter, um Menschen- und Völkerrechte versus Märtyrer und Selbstmordattentäter.“ Das hört sich so rückgratverstärkt, so unbedingt teilenswert, so unvergrübelt – so überaus aufklärerisch an. Und bei alldem doch so bedrückend. Man spürt ihn förmlich im Rücken, den blauen Blick der Gerechten. Ihr Entweder-oder! Wir alle sind Kinder der Aufklärung – hoffentlich! –, und doch hatte die Aufklärung schon immer drei Fehler: ihre Abstraktheit, ihren Moralismus und ihre Denkverweigerung der Zwischenräume.

Grass nervt, sagt Florian Illies. Ist schon richtig. Wir haben ein Recht auf diese Wahrnehmung. Und doch ist es ein gutes Gefühl, dass es noch Menschen gibt, die andere Erfahrungen gemacht haben und andere geistige Prägungen besitzen als den Wechsel von Automarken und Popgruppen. Menschen, die für sich sprechen können, ja, die sogar ein Recht haben zu nerven. Das ist keine Kritik am geistigen Profil von Florian Illies, es ist nur eine Tatsache, die uns alle unter sechzig betrifft: Wir sind die opferlosen Generationen einer modernen, also zuerst: opferlosen Welt. Sind wir Normal- oder Ausnahmefälle?

Die Religionen der Menschheit verkörpern in ihrer Grundschicht nichts anderes als das Wissen, dass es solche opferlosen Welten nicht gibt. Die Mitte jeder Religion ist das Opfer. So, wie uns das Opferwissen des heutigen Islam entgegentritt, erregt es nur tiefsten Abscheu. Und absolut nicht das Empfinden, dass hier etwas ist, das wir vielleicht verstehen sollten.

Der Sommer ist nicht nur die Lieblingsjahreszeit der Attentäter, er ist auch eine gute Zeit, die langen Bücher mit den langen Sätzen und den langen Gedanken wieder zu lesen, die man sonst nie zu lesen schafft. Thomas Manns „Zauberberg“ zum Beispiel. Settembrini, diesen hervorragenden Repräsentanten des Humanismus und der Aufklärung, wieder reden zu hören, heißt, noch einmal verstehen, wie viel schief gelaufen ist: „Indem die Technik, sagte er, mehr und mehr die Natur sich unterwerfe, durch die Verbindungen, welche sie schaffe, den Ausbau der Straßennetze und Telegraphen, … erweise sie sich als das verlässlichste Mittel, die Völker einander nahe zu bringen, … ihre Vorurteile zu zerstören und endlich ihre allgemeine Vereinigung herbeizuführen.“

Regionalzüge. Flugzeuge. U-Bahnen. Der vorbildliche Aufklärer Ludovico Settembrini würde das nie verstehen: dass es Menschen geben soll, die die moderne Technik, die ganze westliche Kultur nur haben, um diese Kultur mittels der Technik in die Luft zu sprengen. Es ist ein Anachronismus. Und doch ist das Settembrini-Menasse-Kumpfmüller’sche Entweder-Aufklärung- oder-Mittelalter fatal. Denn es identifiziert im Ansatz die neue Hinwendung so vieler junger Briten muslimischer Herkunft zur Religion ihrer Väter mit dem Terror einiger Fanatiker.

Es gehe nur um Menschen- und Völkerrechte versus Märtyrer und Selbstmordattentäter

Ist es wirklich so unbegreiflich, dass jene, die oft schon keine Muslime mehr waren, auf den Ausbruch des Irakkriegs anders reagierten als die Mehrheitsbriten? Dass ihnen Blair plötzlich sehr fremd vorkam. Und dass sie erst daran merkten, dass sie nicht nur Briten sind, sondern noch etwas anderes. Aber was? Jeder junge Mensch ist ein Metaphysiker. Und es ist fatal, die eigenen Wurzeln zu suchen, wenn Krieg ist. Ihre Wurzeln, erkannten viele, liegen nicht in der britischen Geschichte.

Das macht gar nichts, würde Jürgen Habermas, noch ein in seiner Jugend nationalsozialistischer Dschihadist, jetzt erklären, denn die Moderne hat gar keine Vergangenheit. Sie ist die Aufhebung der Geschichte, Gesetzgebung ihrer selbst, sie besteht aus Regeln und Normen, die sind zwar nur bedingt heimatfähig, aber dafür universal.

Kann sein, die jungen Nicht- mehr-schon-wieder-Muslime in Großbritannien erkannten, dass irgendetwas an dieser Universalität und dieser Vergangenheitslosigkeit nicht genügt. Gehen sie gar den Weg rückwärts, den der Philosoph, der Schriftsteller und der Papst, jeder auf seine Weise, gekommen sind? Was für eine Konstellation dieses Sommers. Und da gibt es nichts mehr zu denken, nichts mehr zu erklären?