Bei Merkel fehlte das Grundgesetz
: KOMMENTAR VON BETTINA GAUS

Die Versuchung ist groß, jede Rede – auch eine Grundsatzrede – unter tagesaktuellen Gesichtspunkten zu analysieren, umso mehr, wenn eine sonst eher schweigsame Bundeskanzlerin das Wort ergreift. Aber die interessanten Passagen im Beitrag von Angela Merkel zur Programmdebatte der CDU bestanden gestern nicht in ihren ebenso vorhersehbaren wie inhaltsleeren Bekenntnissen zu Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität und sozialer Marktwirtschaft. Sondern tatsächlich in der Bestimmung ihrer geistigen Position.

Erfreulicherweise. Es ist absurd, von einer Parteivorsitzenden zu verlangen, dass sie eine Programmdebatte mit einem Machtwort eröffnet. Das hat Angela Merkel denn auch nicht getan. Vielmehr hat sie die Achtung vor der Würde und dem unersetzlichen Wert jedes Menschen als Kernbegriff ihrer Politik definiert. Ernst gemeint, ist das ein Bekenntnis mit weitreichenden Folgen.

Nicht nur für die Sozialpolitik. Für die sowieso. Aber eben auch für die Folterdebatte, für die Genforschung, für Sterbehilfe, für Asylpolitik, für den Handel mit Rüstungsgütern, für Militärinterventionen. Um nur einige Beispiele zu nennen. Als Richtschnur für politisches Handeln ist die Menschenwürde besser geeignet als alle anderen Leitfragen. Sie ist anspruchsvoller als die Forderung, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt als alleinigen Maßstab für die Sinnhaftigkeit von Entscheidungen zu definieren, wie der Bundespräsident das einst empfahl.

Die Achtung vor der Würde des Menschen ist im Grundgesetz verankert. Eine stärkere Verbündete als die Verfassung gibt es für eine demokratische Regierungschefin nicht. Aber bei Merkel kam das Grundgesetz dennoch nicht vor. Stattdessen bekannte sie sich zum christlichen Menschenbild als Grundlage der Politik ihrer Partei.

Es ist der Vorsitzenden einer Organisation, die das Wort „christlich“ im Namen führt, nicht vorzuwerfen, dass sie die Bedeutung dieser Religion betont. Aber wenn eine deutsche Bundeskanzlerin ausschließlich vom Christentum spricht und gar nicht vom Grundgesetz, dann ist auch das eine programmatische Aussage. Kämpferisch, alle ausgrenzend, die keine Christen sind – und somit das falsche Signal. SEITE 4