Wenn die Kuppel zu Boden stürzt

Die Sammlungen von Museen bleiben oft verborgen, weil Personal zum Inventarisieren fehlt. Ein Projekt für arbeitslose Geisteswissenschaftler wirkt dem entgegen: Nach ihrem Einsatz zeigen sieben Museen im Nordwesten ihre Foto-Bestände unter dem Titel „Ich sehe eben anders“

Es ist ausgefuchst. Wie viele Menschen befinden sich auf dem nebenstehenden Foto? Im Vordergrund sind es sechs. Im Hintergrund aber stehen nochmal vier, eine Dame im ersten Stock hinter dem Fenster und drei in der Tür des Café Central in Nordenham. Die Dame oben scheint nur neugierig, die Personen im Café aber verköstigen sich gerade. Die Aufnahme wirbt also durchaus auch subtil, neben dem protzigen Inszenieren des Fuhrparks.

Das Foto entstand um 1928, es ist eine Auftragsarbeit des Fotografen Wilhelm Muckelberg. Ob es sich dabei tatsächlich um ein Werbefoto handelt? „Wir wissen es nicht genau“, sagt Timothy Saunders, der Leiter des Museums Nordenham. „Typische Werbung in dieser Zeit waren Geschäftspostkarten. Die aber zeigten meist Frontalaufnahmen von Schaufenstern.“

844 Aufnahmen von Wilhelm Muckelberg und seinem Nachfolger hat das Museum Anfang der 1990er Jahre von einem Antiquitätenhändler gekauft. Selbstredend viel Arbeit, die Negative sachgerecht zu sichern, zu sortieren und dann zu inventarisieren. Ein kleines Museum wie das in Nordenham wäre damit schnell überfordert, aber geschehen ist es trotzdem, und zwar im Rahmen des Projektes Musealog: Das vermittelt arbeitslose Geisteswissenschaftler in die Häuser um ihnen die Gelegenheit zu geben, sich weiterzuqualifizieren.

Bezahlt werden sie vom Arbeitsamt und ihre Aufgabe vor Ort ist vor allem das Inventarisieren der Sammlungen. Außerdem konzipieren sie Ausstellungen wie die über den Fotografen Wilhelm Muckelberg: „Auftragsfotografie in der Wesermarsch“ heißt die Schau in Nordenham. Sie ist eine von insgesamt sieben Ausstellungen, die derzeit an verschiedenen Häusern in Nordwestdeutschland zu sehen sind. Die Ausstellungen sind zusammengefasst unter dem Titel „Ich sehe eben anders“. „Wir wollen damit die Leistungsfähigkeit des Projektes zeigen“, sagt Bernd Küster, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg und Geschäftsführer von Musealog.

Alle sieben Ausstellungen stellen die Foto-Bestände der Häuser vor und folgen dabei ihrem jeweiligen Schwerpunkt: Das Landesmuseum Emden beispielsweise zeigt Industriefotografie, angedockt vor allem an den Emder Hafen: Da gibt es den Stapellauf der „Melanie Schulte“ im Jahr 1952 oder den VW Käfer, wie er in den 1960er Jahren per Kran auf ein Autotransportschiff gehoben wird. Entsprechend zeigt das Deutsche Sielhafenmuseum in Carolinensiel Fotos aus dem Alltag der Küstenfischer, das Freilichtmuseum in Cloppendorf widmet sich dem Lebenswerk des mittlerweile 90-Jährigen Amateurfotografen Helmut Korth und im Schlossmuseum Jever geht man dem „Fotojournalismus im ländlichen Raum“ nach: Der Brand der Stadtkirche 1959 ist beispielsweise dokumentiert, aufgenommen in jenem Moment, in dem die Kuppel zu Boden stürzt.

Klar ist, dass es hier nicht um künstlerisch hoch entwickelte Fotografie geht. Trotzdem, sagt Musealog-Geschäftsführer Küster „gibt es den individuellen Blick, der die Qualität ausmacht“. Oder schlicht einen dokumentatorischen Wert wie im Emslandmuseum Lingen: Die dortige Ausstellung dreht sich um den Reichsarbeitsdienst der Nationalsozialisten im Emsland. Konzipiert wurde sie von dem Historiker Hubert Gerlich.

Acht Monate dauert die Teilnahme bei Musealog, über 70 Prozent finden nachher einen Job – wenn auch häufig auf Honorarbasis und nicht in Festanstellung. „Ein großer Vorteil ist: Sie können über das Projekt Kontakte knüpfen“, sagt Küster. Auf der anderen Seite profitieren die Museen von der Arbeit der Geisteswissenschaftler: Das Landesmuseum Oldenburg fand zum Beispiel heraus, wie wichtig die Fotografie für den Landschaftsmaler Georg Müller vom Siel (1865-1939) war. Der nämlich fotografierte, um Anschauungsmaterial für seine Bilder zu gewinnen – die Ausstellung zeigt nun malerisches und fotografisches Werk im direkten Vergleich. „Für die Region“, sagt Küster, „ist das eine Sensation.“

Klaus Irler