Glühendes Eiland

SCHÖPFUNG Auf der Fantasie-Insel Onomatopoeia leben Fabelwesen, Götter und Touristen. Ausgedacht hat sich diese Welt der Künstler Charles Avery, dessen Arbeiten der Kunstverein Hannover zeigt

Die eloquenten Anführer der Gruppen sind an ihren Hüten zu erkennen

Als kulinarische Spezialität der Insel Onomatopoeia gelten in Gin eingelegte Eier, die bitter schmecken und süchtig machen. Mehr als zwei sollte man davon nicht verzehren, sonst ist es um einen geschehen.

Mit dergestalt ausgetüftelter Erzählkunst, großformatigen Zeichnungen, Objekten und einer Filminstallation betört der Schotte Charles Avery in seiner ersten Einzelpräsentation in Deutschland im Kunstverein Hannover. Seit sechs Jahren beschäftigt sich Avery, 1973 selbst auf einer kleinen Insel zur Welt gekommen, mit der Erfindung eines fiktiven Archipels, dessen Hauptstadt mit Hafen den Namen Onomatopoeia trägt. Zwei Bücher hat Avery über seine Insel geschrieben. Die Texte stehen den Zeichnungen zur Seite.

Das Wort „Onomatopoeia“ bedeutet „Lautmalerei“ und assoziiert die Dauerbeschäftigung der Insulaner: das kollektive Streitgespräch, das Tag und Nacht in den Bars und auf der Straße stattfindet. Dabei stehen sich zwei wesentliche philosophische Gruppen gegenüber. Die Positivisten, die von den Rationalisten verlacht werden, weil sie die Jäger des Noumenon unterstützen. Der Noumenon nämlich ist eine ominöse Kreatur, zwar als vorhanden gedacht, aber niemals gesehen.

Dazwischen agieren die Solipsisten, die konfuzianisch angehauchten Dualisten und die Metas, so etwas wie gewaltbereite Autonome.

Die eloquenten Anführer der Gruppen sind an ihren Hüten zu erkennen, am markantesten der stachelig solipsistische, der aussieht wie ein überdimensionaler Herrnhuter-Weihnachtsstern. Und da die anlandenden Touristen wahllos alle Hüte ausprobieren, werden sie zu willfährigen Opfern der Metas – ein durchaus kulturkritisches Gleichnis.

Zu den vielen Hutkreationen in seiner Ausstellung erzählt Charles Avery dann auch einmal eine Geschichte aus seinem realen Familienleben: Seine kleinen Töchter benötigten für ein Osterfest Kopfschmuck und so entstand das aus Dreiecksflächen zusammengesetzte ‚geodätische Osterei‘: nun der Hut der Empiriker oder doch der falschen Dualisten? Man verliert manchmal schon ein wenig den Faden.

Eindrucksvoll, auch jenseits aller Fabeln, sind Averys Zeichnungen und Gouachen der fiktiven Inselwelt. Fein ausgearbeitete Architekturprospekte, wie etwa die Kaianlage mit ihrer funktionalistischen Bebauung. In der Bildmitte der fünf Meter langen Szenerie des Hafens von Onomatopoeia sind Unmengen von Lebewesen zu sehen, die teils nur in skizzenhaften Umrissen eingefangen sind. Oder die angrenzende Bergwelt hinter einer wuseligen Marktszene: Sie ist auf eine schroffe Primärgeometrie reduziert.

Das alles trägt Züge geradezu altmeisterlicher Beherrschung darstellerischer Techniken aber auch disziplinierter Schwerpunktsetzungen in einem wahrlich ausufernden Motivfundus. Und so ist man auch gar nicht überrascht, in einem kleinen Nebenraum der Ausstellung eine Sammlung von Fotos realer Architekturen und Landschaften, Skizzen, Modellen, Masken menschlicher Gesichter und vielem mehr vorzufinden. Es handelt sich um das Instrumentarium, aus dem Charles Avery seine visuelle und literarische Fantasiewelt zusammenfügt.

Womit er sich in eine Reihe stellt mit Literaten wie Arno Schmidt, die in jahrelanger Kärrnerarbeit ihr Material in Skizzenbüchern, Zettelkästen und persönlichen Archiven einsammeln, geradezu einfrieren. Um es für ein groß angelegtes Epos dann zusammenzuschweißen, ja glühend zu machen.BETTINA MARIA BROSOWSKY

Charles Avery: Onomatopoeia, bis 7. November, Kunstverein Hannover