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: Bilder für die Hochdruckgegenwart

Orientierung ist unmöglich: Jonathan Weiss hat J. G. Ballards Textexperiment „The Atrocity Exhibition“ verfilmt

Wir alle sind nur Crashtest-Dummys in einer Ausstellung des Schreckens. Dies die Diagnose, die J. G. Ballard 1969 in seinem experimentellen Text „The Atrocity Exhibition“ (deutsch: „Liebe + Napalm“) stellte. Jonathan Weiss hat dieses Buch vor sechs Jahren verfilmt, obwohl es als eher unlesbar gilt – und als unverfilmbar erst recht. Er hat dabei mit dem Autor kooperiert, der sich im Audiokommentar von der Filmversion begeistert zeigt. Ballard lobt die Treue zum Original, und noch die vielleicht größte Abweichung war seine Idee. Anders als das Buch gibt der Film dem, was er zeigt, einen Rahmen. Was wir sehen werden, erfahren wir in einem Prolog, ist ein Film, den der Psychiater Travis Talbert (Viktor Slezak) gedreht hat. Der Film dokumentiert, genauer gesagt, seinen Nervenzusammenbruch, aber als Wahrheit über unsere wahnsinnig gewordene Welt. In fünf Kapiteln löst sich, in Travis' Kopf, vor unseren Augen die Welt, die wir kennen, auf und geht über in einen anderen Zustand.

Mit einer langsamen Fahrt der Kamera durch einen dunklen Gang mit offenen Türen beginnt, nach dem Prolog, der Film „The Atrocity Exhibition“. Die Kamera fährt zu auf ein in Licht getränktes Fenster, vor dem ein Mann in einem Arztkittel steht. Erst bewegt er sich nicht, dann verlässt er den Gang und das Bild. Die Kamera schwenkt auf eine der offenen Türen. In einem kleinen Zimmer sehen wir ein Bett und darauf zwei Puppen ohne Kopf. Wir wissen nicht, wo wir sind. Darauf ein weiteres Zimmer, wir sehen von hinten den Mann im Kittel, er sitzt auf einem Stuhl neben einem Bett, auf dem ein verbogenes Stück Eisen liegt. Wir wissen nicht, was es bedeutet.

Dann brechen Bilder ein, zerreißen diesen Zusammenhang, bevor sich so etwas wie eine Geschichte ergibt. Zu sehen ist ein Zeitschriftenfoto von Marilyn Monroe, zu sehen ist ein kurzer Ausschnitt aus einem Pornofilm. Dann sieht man einen älteren Mann, auch er in einem Arztkittel. Er eilt durch ein Gebäude, er blickt durch ein Glasfenster einer Tür. Man sieht ihn blicken, aber man sieht zunächst nicht, was er sieht. Stattdessen eine desorientierende Montage-Operation, ein Zimmer mit einem Modell-Hubschrauber, dann Bilder von einer asiatischen Frau mit Verbrennungen am Arm, dann in Zeitlupe Bilder von einem Crashtest. Die Montagen verfestigen sich so wenig zu Thesen, wie sich die wiederkehrenden Figuren – neben Travis noch der Wissenschaftler Dr. Nathan (Michael Kirby) und Travis' Freundin Karen Novotny (Anna Juvander) – und deren Handeln je zu einer linearen Geschichte zusammenfügen.

Die Sechzigerjahre sind in Ballards Text präsent als Serie von Obsessionen: Schauspiel-Ikonen wie Marilyn Monroe, der Vietnamkrieg, das Weltraumprogramm, die Ermordung von John F. Kennedy. Daneben Schönheitschirurgie und Autounfälle sonder Zahl. Jede historische Ordnung aber ist zersprengt. Von einer Darstellungsform der „Hochdruckgegenwart“, einer Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft implodieren, spricht Ballard im Audiokommentar. Die Räume des Films sind immer auch äußere Form eines Inneren, der Psyche des Psychiaters Travis. Jonathan Weiss' Film schafft mit Kamera und Schnitt genuin filmische Räume, in denen verlässliche Orientierung unmöglich ist; Raum und Zeit sind aus den Fugen und gerade so zur Kenntlichkeit entstellt.

„The Atrocity Exhibition“ ist eine Etüde über Zerstörbarkeit und Zerstörung von Körpern und Leben. Der Film ist ein Update der literarischen Vorlage, so speist er zum Beispiel Bilder der Challenger-Katastrophe in Ballards implodierte Hochdruckgegenwart der Sechzigerjahre, und dass dies so umstandslos gelingt, spricht für die Haltbarkeit des Entwurfs. Konsequent versperrt sich Jonathan Weiss fast allen Spielfilmkonventionen (ein bisschen nervt er im Audiokommentar mit seiner pauschalen Verdammung des Erzählkinos). Er setzt aber nicht Verrätselung dagegen, sondern die streng kontrollierte Assoziation von Found-Footage-Material und inszenierten Szenen. „The Atrocity Exhibition“ ist eine Herausforderung, aber der Film gehört zu den Versuchen, die im Kino gewagt werden müssen. EKKEHARD KNÖRER

Die vom „reel 23“-Label produzierte DVD wird in Deutschland exklusiv von „projekt b“ (www.projekt-b.de) vertrieben