Buße durch Sprechakte

Ob in der katholischen Beichte, der bolschewistischen Selbstkritik oder der psychoanalytischen Selbstthematisierung: Sprechen hat sich als die Art durchgesetzt, mit Verfehlungen umzugehen

VON ROBERT MISIK

Das Eigentümliche an der gegenwärtigen Grass-Debatte ist der Umstand, dass es weniger um Schuld geht als vielmehr um die richtige Art des Redens über die Schuld, von der nicht einmal klar ist, worin sie besteht. Niemand will Grass seine Waffen-SS-Wochen vor 62 Jahren vorwerfen, doch unisono wird ihm vorgehalten, wie er darüber spricht und dass er zu spät darüber spricht. Das ist nicht unbizarr, wird doch in den Reaktionen unwidersprochen vorausgesetzt, dass falsches Sprechen über das eigene Leben eine ebenso verwerfliche Tat ist wie falsches Tun – wenn nicht gar eine noch verwerflichere.

Wer schweigt, der fehlt

Das ist natürlich auch wieder nicht gar so überraschend, weil längst ein Standard im christlichen Kulturkreis, über Jahrhunderte kulturell antrainiert. Sünden, wissen wir seit jeher, werden vergeben, wenn man sie beichtet und damit über sie ehrlich spricht. „Wer bekennt, hat bereut, und wer bereut hat, hat seine Schuld getilgt“, sagt ein russisches Sprichwort. Zu einer entwickelten Persönlichkeit wird der, der sich stetig selbst kritisiert. Wer mit sich und seinen Sünden nicht ins Gericht geht, den erwarten Höllenqualen – so lehrt die katholische Kirche. Wer quälende Erlebnisse nicht verbal verarbeitet, dem ist die irdische Tortur der Neurose sicher – die säkularisierte Hölle der Psychoanalyse. Nach und nach hat die böse Verwandte des Sprechens, das Verschweigen, die Tat und die Untat als Quelle von Schuld abgelöst. Die Untat ist schließlich aus dieser Perspektive eine Lässlichkeit – sie kann man beichten und damit die Schuld tilgen. Das Verschweigen ist die eigentliche Verfehlung, aus der kein Weg ins Freie führt. Eine auch nur fragwürdige Handlung kann dann eben aber auch nicht nur durch künftiges Unterlassen der Handlung gesühnt werden, und so wird Grass’ Hinweis, dass sein späteres Leben „das Gegenteil dessen bedeutete“, wovon seine Jugendjahre geprägt waren, nur als Ausweis von Verstocktheit beurteilt werden: als Indiz für das Unverständnis, dass Umkehr aus dieser Perspektive nur um den Preis des peinlich offenen Redens über alles zu haben ist.

„Wichtiger als die Buße durch Werke wurde die Buße, die durch Sprechakte symbolisiert wird“, schreibt der Wiener Historiker Berthold Unfried in seinem lesenswerten Buch „Ich bekenne“, das dieser Tage im Campus-Verlag erschienen ist. Darin analysiert er die Selbstthematisierung eigener Verfehlungen als die Selbsttechnik westlicher Subjektivierung anhand zweier vordergründig gegensätzlicher Exempel – der katholischen Beichte und der (sowjet-)bolschewistischen Selbstkritik.

Das Geständnis- und Unterwerfungsritual der Beichte ist zweifellos die Urszene der reflektierenden Selbstthematisierung, dieser Selbsttechnik im Foucault’schen Sinn. Mit ihr erlernten breite Volksschichten erst, sich über sich selbst Gedanken zu machen, über den eigenen Charakter nachzudenken, das persönliche Leben als „Biographie“ zu verstehen – als „Sündenbiographie“ (Unfried). Mit ihr hielt die „permanente Selbsterforschung“ Einzug. Als solche war sie sogar Motor der Individualisierung. Zugleich war sie natürlich auch eine Beugung unter die Autorität der Kirche und eng verbunden mit einem schematischen Sündenkatalog, der individueller persönlicher Lebensgestaltung einen Riegel vorschieben wollte.

Der Biographiegenerator

In den mondänen Pariser Zirkeln des 19. Jahrhunderts waren die gerade angesagten Beichtväter regelrechte Stars, Vorläufer heutiger Psychoanalytiker. Die Beichte war, mit einem schönen Wort Unfrieds, ein „Biographiegenerator“, verlangte aber freilich gerade kein öffentliches Sündenbekenntnis – im Unterschied zur sowjetischen Selbstkritik. Die war jedoch, zumindest in ihrer frühen und allgemeinen Form, wie die Beichte ein Instrument zur „Selbsterziehung des Parteisubjekts“, eine Art, an sich zu arbeiten, sich selbst zu reinigen. Diese Funktion verlor sie erst mit dem Terror der Massensäuberungen und der perversen Selbstanklagen der Schauprozesse, aus denen die meisten nicht gereinigt hervorgingen, sondern als Opfer der Erschießungskommandos. Klug abgewogene Selbstkritik konnte allerdings auch in dieser Zeit noch ein raffinierter Weg sein, das Schlimmste zu verhindern.

Allen Formen der Selbstthematisierung durch Sprechen – der Beichte, der Selbstkritik, dem psychoanalytischen Reden – ist eigen, dass die Subjekte nicht nur als geläuterte, sondern als entwickeltere Persönlichkeiten aus diesen hervorgehen sollten, als irgendwie „neue Menschen“, dass aber immer der Stachel des Zweifels blieb, ob sie es wirklich ernst meinten. Denn es sind ja die Durchtriebensten, die die gerade angesagten Formeln der Selbstthematisierung so raffiniert wie routiniert beherrschen – nicht ihrer „Häutung“, sondern der Tarnung wegen.

Deswegen auch die Entrüstung über Leute, die glauben, sie können sich als Geläuterte präsentieren, aber dann doch als Verschweiger ertappt werden – und die sich dann ihrerseits wundern, dass ihr Schweigen viel schwerer wiegen soll als ihre Taten. Also über Leute wie Grass.