Welche Lektion, bitte?

Das Theater um Günter Grass’ SS-Outing wird mit jeder Einlassung des Literaturnobelpreisträgers schlimmer

In einem Brief an seine Geburtsstadt Danzig, adressiert an deren Bürgermeister Paweł Adamowicz, heißt es, er habe eine „Kontroverse“ ausgelöst – „doch möchte ich für mich beanspruchen, die harten Lektionen, die mir in meinen jungen Jahren erteilt worden sind, begriffen zu haben“. Welche „Lektionen“?

In Grass’ Büchern ist hierzu nichts, gar nichts vermeldet, auch in seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ ist keine Spur zu lesen von dem, was mit dem Begriff einer „Lektion“ gemeint sein könnte. Grass hat überlebt – was ihn vom Gros der von der Waffen-SS Terrorisierten unterscheidet; wurde ein in jeder Hinsicht mainstreamfähiger Autor, der eine Existenz als Gesamtkunstwerk lebt – als Mahner vor allem, was ja die beliebteste Rolle im kleinbürgerlichen Charakterfach der Post-Holocaust-Deutschen ist, die moderne Variante des Heuchlers.

Der amerikanische Autor Louis Begley („Lügen in Zeiten des Krieges“), selbst Überlebender des Holocaust in Osteuropa, kritisierte Grass gestern in der FAZ unter der Überschrift „Lügen in Zeiten des Friedens“; für ihn jedenfalls habe die Waffen-SS nichts von ihrem tatsächlich traumatisierenden Horror verloren. Vor allem entsetzte ihn die „schockierend absurde Anekdote“, in der Grass schildert, wie sehr ihn der Rassismus der US-Besatzer gestört habe, dass die Weißen die Schwarzen schlecht behandelten. Robert B. Goldmann, Journalist aus New York, fragte im gleichen Blatt: „War Grass als Achtzehnjähriger im Falle Amerikas schneller mit der Kritik zur Hand als im Falle Nazideutschlands? […] Ist dieser […] Schriftsteller letzten Endes doch nur ein Mensch, dessen Talent und Erfolg Charakterzüge verdeckten, die er mit anderen, die sich der jeweils gültigen politischen Korrektheit anpassen, teilt“ – also Opportunismus?

Denn dies war ja auch immer Grass: niemals ein Dissident, immer beifalltauglich (gegen die USA, Asylrecht, Armut, Rechtschreibreform et al.) – und jetzt Autor eines Buchs, das, wesentlich bizarrer als die Waffen-SS-Enthüllung, nichts von dem preisgibt, was ihn als Jugendlichen ernsthaft dazu bewog, begeistert das völkische Deutschland gut zu finden.

Im Brief an Danzigs Bürgermeister spricht Grass nun gar davon, der Fall habe für ihn „existentiell bedrohliche Ausmaße“ angenommen: Bitte? Geht’s nicht auch kleiner?

Harald Welzer, Autor der erhellenden Studie „Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“, befragt, ob der Fall Grass ihn als Gedächtnisforscher interessiere, antwortete: „Nein. Der hat es nie erzählen wollen, es ging immer um seine Karriere.“

Letzte Meldungen: Die Erstauflage seiner Zwiebelhäutungen ist verkauft; seine Ehrenbürgerwürde in Danzig steht nicht mehr in Frage. JAF