Geld allein ist kein Wohlstand

ZUKUNFT SPD und Grüne wollen mit einer Enquetekommission des Bundestages einen neuen Wachstums- und Fortschrittsbegriff finden. Das BIP zeige zu wenig

„Auch die Lebensstile werden sich künftig ändern“

BÄRBEL HÖHN, GRÜNE

BERLIN taz | Eine alltägliche, aber grundsätzliche Frage: Soll ein Facharbeiter am Abend noch eine Überstunde schieben und von dem so erarbeiteten Geld den zehnten Spielzeuglaster oder überteuerte Markenjeans für seinen Sohn kaufen? Oder soll er – falls ihm sein Arbeitgeber die Wahl lässt und sein Verdienst zum Leben ausreicht – auf die Überstunde verzichten und stattdessen mit dem Sohn auf einer schönen Wiese Federball oder bei schlechtem Wetter zu Hause Karten spielen?

Das Beispiel mag illustrieren: Wohlstand, Glück und Zufriedenheit sind nicht allein mit den gängigen ökonomischen Faktoren zu messen, und zwar weder individuell noch gesellschaftlich. Das Bruttoinlandsprodukt eines Landes – der Wert aller produzierten Waren und erbrachten Dienstleistungen – besagt alles Mögliche, aber über den Zustand der Natur sowie über die Zufriedenheit, das Bildungsniveau und den Gesundheitszustand sagt es nichts aus. Das haben jetzt auch die Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen erkannt. Sie wollen das Problem in einer Enquetekommission des Bundestags gründlich erörtern.

„Wir wollen einen neuen Fortschrittsindikator entwickeln“, sagte SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung der Pläne für diese Kommission, deren Einsetzung die beiden Oppositionsfraktionen auch allein durchsetzen können. Der neue Wohlstandsindikator könne dann das Fundament für künftige politische Entscheidungen bilden.

Nach Ansicht Heils zwingen mehrere Krisen zum Umdenken: Zunächst sei da die Wirtschafts- und Finanzkrise, die ein quantitatives Wachstum infrage stelle, das durch Spekulationen befeuert werde. Hinzu komme die ökologische und die Klimakrise; zudem wachse die Ungleichheit. All dies führe zu einer Krise des Vertrauens der Bevölkerung in die Politik, und dies könne die Demokratie gefährden.

Viele sozialstaatliche Instrumente seien auf rein quantitatives Wachstum ausgelegt, analysierte SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber. In den entwickelten Gesellschaften seien die Systeme der Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie der Alterssicherung – ob umlagefinanziert oder kapitalgedeckt – besonderen Wachstumszwängen ausgesetzt. Die Kommission solle nun herausarbeiten, wie sich der Sozialstaat auch in Zeiten geringen Wachstums stabilisieren lässt. Immerhin bremst die demografische Entwicklung das klassische Wachstum in Deutschland. Weniger – und teilweise unzureichend gebildeter – Nachwuchs bedeutet weniger arbeitsfähige Menschen, die für Wachstum sorgen können, und zwar unabhängig von möglichen Produktivitätssteigerungen.

Bärbel Höhn, stellvertretende Chefin der Grünen-Fraktion, wies auf die „Grenzen des Wachstums“ hin, die durch die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und den Klimawandel gegeben seien. Bei einem neuen Wohlstandsbegriff würden sich auch die Lebensstile ändern. Ein Beispiel: Die Deutschen müssten weniger Fleisch essen. Dies sei nicht nur gesünder; die Produktion des Fleischs verbrauche auch zu viele Kalorien, die für die Ernährung der Weltbevölkerung fehlen. „Wir wollen keine Bevormundung, müssen aber politische Leitplanken entwickeln“, sagte Höhn.

Die neue Enquetekommission des Bundestages soll im Oktober ihre Arbeit aufnehmen und vor dem Ende der Legislaturperiode im Jahr 2013 ihren Bericht vorlegen. RICHARD ROTHER