„Eine Regierung politischer Selbstmörder“

STAATSFÜHRUNG Der neue Premier Jazenjuk ist sich der desaströsen Lage bewusst und kündigt extrem unpopuläre Maßnahmen an

BERLIN taz | Die Ukraine hat eine neue Regierung. Am Donnerstag stimmten 371 der 450 Abgeordneten des Parlaments für Arseni Jazenjuk als neuen Ministerpräsidenten des Landes.

Am Vorabend hatte der sogenannte Maidan-Rat, in dem die Führungsspitzen der bisherigen Oppositionsbewegung versammelt sind, den Vorsitzenden der Vaterlandspartei von Exregierungschefin Julia Timoschenko für das Amt des Regierungschefs nominiert. Der 39-Jährige war bereits Parlamentschef und Außenminister. Ein Regierungsamt unter dem mittlerweile gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch hatte er jedoch abgelehnt.

„Dies ist eine Regierung politischer Selbstmörder. Willkommen in der Hölle“, sagte Jazenjuk. Die vorherige Regierung und der vorherige Präsident seien so korrupt gewesen, dass sich die Ukraine jetzt in einer desaströsen finanziellen Lage befinde. Jetzt müssten extrem unpopuläre Maßnahmen ergriffen werden, sagte Jazenjuk. Nach Angaben des amtierenden Finanzministers braucht das Land 35 Milliarden Dollar, um die kommenden zwei Jahre finanziell überstehen zu können.

Außer Vertretern der Vaterlandspartei sitzen in der 21-köpfigen Übergangsregierung auch Mitglieder der nationalistischen Partei Swoboda (Freiheit), darunter der bisherige Abgeordnete Alexander Sytsch. Er soll Vizeregierungschef werden. Sytsch tritt unter anderem für eine Verschärfung des Abtreibungsrechtes ein.

Aktivisten des Maidan sind im Kabinett ebenfalls vertreten. So wird Dmitri Bulatow neuer Jugend- und Sportminister in Kiew. Der 35-Jährige war nach eigenen Angaben Ende Januar von Unbekannten entführt und mehrere Tage lang schwer gefoltert worden. Dabei war ihm ein Teil seines rechten Ohrs abgeschnitten worden.

Auch die Investigativjournalistin Tatjana Tschornow war in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 2013 bei einem Anschlag schwer verletzt worden. Sie wird Chefin der Antikorruptionsbehörde. Die Partei Udar von Exboxweltmeister Vitali Klitschko hatte auf eine Regierungsbeteiligung verzichtet.

Unterdessen hat eine Gruppe ukrainischer Journalisten vorgezogene Parlamentswahlen gefordert. „Die Ukrainer haben mit dem Leben von 100 Bürgern für das Recht bezahlt, in einem ehrlichen und demokratischen Staat leben zu können“, heißt es in dem Aufruf, den das ukrainische Internetportal Ukrainska Pravda am Donnerstag veröffentlichte. Die Absetzung von Wiktor Janukowitsch und die Einsetzung einer neuen Regierung schafften nicht die Voraussetzungen für eine Diktatur ab, die in der Ukraine mit der Verabschiedung des Gesetzespakets am 16. Januar eingeführt worden sei. Dafür müsse das Parlament in Kiew die Verantwortung übernehmen.

Am 16. Januar hatten die Abgeordneten der Rada im Schnelldurchgang ein Gesetzespaket beschlossen. Dieses stellte unter anderem die Verbreitung von „Verleumdungen“ – speziell im Internet – unter Strafe. Auch das Recht auf friedliche Demonstrationen wurde massiv eingeschränkt. BARBARA OERTEL