UNSCHÄRFERELATION, WESPEN, BERUFSJUGENDLICHKEIT, ANGENEHM PROLETARISCHES VERHALTEN, SUHRKAMP – UND DAZU FLEISCH AUS ARGENTINIEN: Ich nehme die Fenchelsuppe und du Spaghetti mit Ragout
VON RENÉ HAMANN UND AMBROS WAIBEL
Die Unschärferelation ist nicht die Folge von Unzulänglichkeiten eines entsprechenden Messvorgangs, sondern prinzipieller Natur. Das hatten wir dann erst Tage später gelesen. Aber den Abend über hatte sich die Sache mit Heisenberg immer wieder in unsere Gespräche gedrängt, schon als wir gar nicht mehr wussten, wer sie eigentlich zuerst aufgemacht hatte. Das Essen war aber jedenfalls total schön gewesen.
Die Luft war eigentlich schon zu kalt, um draußen zu sitzen, die Wespen in ihrer Furcht vor dem nahen Ende waren lästig. Aber es hing etwas Belebendes in der Luft, die Magie des Herbstes. Das Licht war sehr klar, und beide hatten wir am Wochenende Großaufgaben zumindest vorläufig abgeschlossen, der eine die Steuer, der andere einen Roman. Und es war super gewesen, dass den Leuten vom „Liberda“ in der Pflügerstraße an diesem Tag das Hüftsteak ausgegangen war und sie das Wort „Hüftsteak“ nach „Argentinisches“ auf der einheitlich sauber beschriebenen Kreidetafel durch „Entrecôte“ ersetzt hatten. Sonst wäre es eben blöd gewesen, und wir hätten zu Hause sitzen und Playstation spielen müssen. Oder sonst was Berufsjugendliches.
Das „Liberda“ hat ohnehin etwas Mütterliches. Es ist ein super Nachbarschaftslokal ohne große Ansprüche an sich selbst und an seine Gäste. Mittelklasse für die Mittelschicht, perfekt für das anrührend gelungene Paar, das dann auch entsprechend anschaulich im Schaufenster saß und sich eine Portion teilte – es sah so aus, als ob sie dasselbe genommen hätten wie wir. Es gab ein Entrecôte, gut durch, es gab Kartoffeln, es gab Salat, und alles schmeckte so neutral und vertraut wie das Beck’s-Bier dazu. Dabei war der Start des Lokals traurig gewesen, denn der familiär geführte Kleinsupermarkt, der die Räume früher gefüllt hatte, war eines der ersten Opfer des Wachwechsels im Kiez geworden. Der stets lächelnde Patriarch hatte es dann in Schöneberg versucht, war aber krank geworden, und nun sah man ihn manchmal melancholisch um den Reuterplatz laufen.
Am Nebentisch nahmen nach einer Weile eine Tochter mit ihrem Vater Platz, beide auf eine ungewohnte Art proletarisch, so direkt und etwas grob in der Wortwahl, was nehmen wir denn, hatte der Vater gefragt, und die Tochter hatte gesagt, das machen wir ganz einfach, ich nehme die Fenchelsuppe und du Spaghetti mit Ragout, und so war auch das geklärt, und dann begann die Tochter von so konkreten wie zurückhaltenden Fragen unterbrochen, dem Vater ihre ökonomische Situation zu schildern, 180 für Miete, 150 für Essen, es fiel das Wort Bootsbau, es war von Selbstständigmachen die Rede, und es kam der Satz vom Job, den sie schon finden würde.
Kritische Hausautoren
R. hatte von seinem Vater erzählt und seinem Faible für die handfesten Dinge des Lebens und die Unschärferelation und das Wesen der Elektromechanik. A. erzählte von der Kommunikation, die man anbieten kann, von sich aus aber nicht suchen muss. Das Entrecôte indes ließ sich essen, ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken, wie ein Burger bei McDonald’s, man musste die Konversation nicht aufs Essen ausrichten. Und weil wir das Fleisch nicht beobachtet hatten, veränderte es sich auch nicht – waren wir so auf Heisenberg gekommen?
Als wir dann zahlten, war der Laden voll, der Kellner war am Rennen gewesen, aber immer zuvorkommend. Am Nebentisch hatte der Vater ein DIN-A5-Schulheft gezückt und diktierte der Tochter Nummern von Gastrochefs. Zweifellos würde sie einen Job bekommen.
Wir sprachen da schon über Suhrkamp, die Fehler, die man machte, das Hausrecht der Hausautoren, zu hauskritischen Artikeln kritisch zu sein, und über K. Und seine wirklich bewundernswerte Begabung für Geschichten ohne Pointe. Wahrscheinlich war er gar nicht ihr Vater.
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