„Man kann nicht mehr aufhören“

Exzessives Computerspiel kann zur Sucht werden. Die Spiele sind ein Teil der Jugendkultur, mit dem sich auch Eltern beschäftigen sollten, meint Ralf Thalemann von der Charité Berlin. Der Pädagoge forscht über die Ursachen der Spielsucht

INTERVIEW: MARTIN HÖCHE

taz: Herr Thalemann, am Anfang eine ganz simple Frage: Machen Computerspiele süchtig?

Thalemann: Die Antwort ist leider nicht so ganz einfach. Das Thema wird seit 20 Jahren diskutiert. Aber seit Computerspiele eine größere Verbreitung erfahren haben, also seit Mitte der 90er-Jahre, haben wir verstärkt internationale Studien aus England, USA und Asien, besonders aus Südkorea und Japan. Diese Studien behaupten eben, dass Computerspiele süchtig machen können.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang eigentlich Sucht?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat einen international verbindlichen Kriterienkatalog für Abhängigkeit festgelegt, an dem sich die Studien im Wesentlichen orientieren.

Welche Kriterien sind das?

Im engeren Sinne sind das sechs Kriterien. Unstillbares Verlangen, Toleranzentwicklung – so dass die Dosis erhöht werden muss –, Entzugserscheinungen, Kontrollverlust – man kann nicht mehr aufhören –, negative Konsequenzen und die Probleme, die daraus erwachsen.

Was bedeutet das konkret?

Das Verhalten wird beibehalten, obwohl es Streit mit Eltern oder Freunden gibt. Die Schulleistungen verschlechtern sich. Es kann auch gesundheitliche Folgen, in Form von zu wenig Schlaf, geben. Typisch ist das Auslassen von Mahlzeiten.

Ab welchem Zeitpunkt sprechen Sie denn von einer Abhängigkeit?

Die WHO spricht von Abhängigkeit, wenn mindestens drei dieser Kriterien in den letzten zwölf Monaten aufgetreten sind. Dann können wir sagen: Dieser Mensch hat ein Problem. Das Verhalten der Jugendlichen entspricht oftmals diesen Abhängigkeitskriterien.

Obwohl kein konkreter Stoff, wie zum Beispiel Alkohol, konsumiert wird.

Genau. Außerdem ist es keinesfalls neu, exzessive Verhaltensweisen als Sucht zu klassifizieren. Vor hundert Jahren ist die Glücksspielsucht vollkommen gleichrangig neben Kokainsucht und Alkoholsucht benannt worden. Irgendwann ist das in den Hintergrund getreten, weil man den Stoff in den Mittelpunkt gestellt hat.

Wie messen Sie denn in Ihren eigenen Studien die Abhängigkeit von Computerspielen?

Wir wissen, dass Drogensüchtige anders auf drogenassoziierte Reize reagieren als Nichtabhängige. Und wenn das denn so ist, dass Computerspiele abhängig machen, dann müssten die exzessiven Spieler auch eine andere Reaktion auf Bilder von Computerspielen zeigen als Gelegenheitsspieler. Wir haben in einer physiologischen Studie 15 exzessive Spieler im EEG untersucht und 15 Gelegenheitsspieler, zu denen ich mich auch zähle, die zum Beispiel den Beruf nicht vernachlässigen. Bei den exzessiven Spielern konnten wir zeigen, dass es eine spezifische Erregung gab, wenn man ihnen computerspielbezogene Bilder gezeigt hat. Insofern ist das ein Indikator dafür, dass die Spiele abhängig machen können.

Wie viele Computerspieler sind überhaupt abhängig?

Das weiß kein Mensch so richtig, weil in den Studien zu diesem Thema völlig unterschiedliche Kriterien herangezogen werden. Deshalb sind auch die Ergebnisse unterschiedlich. Es schwankt etwa zwischen 1 und 20 Prozent.

Sie haben vor kurzem den Anteil der Abhängigen mit 10 Prozent beziffert.

Ja, diese Zahl geistert herum. Die bezieht sich aber auf eine Befragung unter 7.000 Onlinespielern, die wir in Zusammenarbeit mit einem Onlinespielmagazin durchgeführt haben. Und diese 10 Prozent sind diejenigen, die mindestens drei der sechs Formalkriterien für eine Abhängigkeit erfüllen. Ich habe mit diesen 7.000 Leuten natürlich keine Interviews geführt und würde niemals die Diagnose Computerspielsucht stellen, wenn ich die Biografie der Person nicht kenne.

Ist ein Spieler schon süchtig, wenn er drei Stunden am Tag spielt?

Das vermuten die meisten Mütter, die bei mir in der Telefonsprechstunde anrufen. Es ist übrigens fast immer die Konstellation Mutter – Sohn. Das kenne ich auch aus meiner eigenen Biografie. (lacht) Mütter können sich oft nicht vorstellen, wie jemand drei Stunden am Tag spielen kann. Das ist aber nicht unnormal. Ich werde dann hellhörig, wenn der Junge – seit er spielt – wirklich schlechter in der Schule geworden ist, nachts nicht mehr schläft, damit er noch ein paar Stunden länger spielen kann, seine Verpflichtungen im Haushalt nicht mehr erfüllt und sich insgesamt eine komische Veränderung eingestellt hat. Wenn der Kerl aber noch nie den Müll heruntergebracht hat, dann kann man nicht behaupten, die Spiele sind schuld. Der ist dann einfach schon immer faul gewesen.

Wo verläuft denn die Grenze zwischen Spaß und Sucht?

Der überwiegend größte Teil der Spieler hat keine Probleme, sondern nutzt die Spiele zur Unterhaltung, genauso wie Fernsehen. Aber gekoppelt mit einer bestimmten Anlage oder mit Risikofaktoren, wie beispielsweise wenig Sozialkontakten oder unsicheren Persönlichkeiten, kann es bedenklich werden. Diese Leute haben meiner Ansicht nach ein höheres Risiko, eine Computerspielsucht zu entwickeln, weil sie das Spiel zweckentfremdet einsetzen. Also nicht zur Unterhaltung, sondern um ihren Stress zu bewältigen oder schlechte Erfahrungen zu kompensieren. Diese Spieler schöpfen dann einen Wert daraus, sich zum Beispiel einen virtuellen Charakter bei „World of Warcraft“ aufzubauen, der ihrem Ideal entspricht.

Es ist also eine Art Ablenkung?

Genau. Meine Chefin sagt immer: „drinking the hurt away“. Analog dazu kann man eben sagen: „gaming the hurt away“. Es ist tatsächlich so, dass ich von vielen Spielern höre, die nicht mehr zur Schule gegangen sind, weil sie für falsche Antworten ausgelacht wurden und dann Angst vor den Pausen haben. Diese Leute neigen dazu, den Problemen aus dem Weg zu gehen. Sie sitzen dann zu Hause vor dem Computer, was sollen sie auch sonst mit ihrer Zeit anfangen? Begleitend dazu kann es auch zu psychischen Störungen kommen, die neben dem Computerspielen auftreten, wie Ängstlichkeit, Depressivität und Sozialphobien. Manche Spiele, wie „World of Warcraft“, sind gut gemeint, aber sie sind verheerend für die Persönlichkeitsentwicklung mancher Spieler.

Wenn man sich Internetforen zum Thema Computerspielsucht anschaut, wird von den Teilnehmern oft beschwichtigt, indem beispielsweise gesagt wird, Schokolade mache ja auch abhängig, aber die Folgen seien nicht so schlimm. Bestreiten da Abhängige ihre Sucht?

Es ist ja nicht so, dass man sich mit Computerspielen eine stoffgebundene Droge zuführt, bei der biochemische Veränderungen stattfinden. Insofern ist es richtig, dass viele Leute sich eine Abhängigkeit nicht vorstellen können. Aber einige Glücksspieler ruinieren auch sich und ihre Familie, ohne dass sie direkt etwas zu sich nehmen. Die negativen Folgen sind also existent.

Wieso sind eigentlich fast nur Jungen davon betroffen?

Viele Soziologen sagen, dass Computerspiele von Männern für Männer gemacht sind. Das stimmt so nicht mehr. Auch viele Mädchen und Frauen sind interessiert. Es sind vielleicht andere Genres, aber die werden ja schließlich auch bedient. Es ist ja nicht so, dass Electronic Arts mit dem Spiel „Sims“ Verluste einfährt, im Gegenteil.

Woran liegt es dann?

Männer und Frauen gehen sehr unterschiedlich mit Stress um. Das zeigt sich schon sehr früh in der Grundschule. Untersuchungen in der zweiten Klasse haben gezeigt, dass Mädchen bei Problemen eher Unterstützung bei ihren Freundinnen suchen, also problemorientiert handeln, während Jungs dazu tendieren, vermeidend zu reagieren, abzutauchen, nach dem Motto: Der Kelch wird schon an mir vorübergehen. Meine Hypothese ist, dass das Computerspielverhalten, also das Abtauchen in eine andere Welt, sich mit dem Umgang mit Stress deckt.