Wie bei Muttern

Wer isst, erinnert sich – an die Dampfnudeln der badischen Kindheit, den Nachkriegshunger oder an Jesus am Kreuz

VON ANNE HAEMING

Saftig und süß war das Törtchen, gelb glänzend von der Butter und den Eiern, ein leichter Zitronenduft ging von ihm aus, vielleicht auch ein wenig Rumaroma. Er tunkte es in seinen Lindenblütentee, nahm einen Löffel voll Tee mit Krümeln, führte ihn zum Mund, und schwups wurde aus dem eingeweichten Stück das wohl berühmteste Gebäck der Literaturgeschichte: Marcel Prousts Madeleine. Denn nach Tee mit Törtchen folgt der entscheidende Satz: „Mit einem Mal war die Erinnerung da.“ Der Geschmack des Kuchens, der Geruch der Blüten verknüpfen in Marcels Hirn Gegenwart und Vergangenheit. Unversehens tauchen Kindheitserinnerungen auf. Schuld war die Madeleine in Prousts Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.

„Die Geschmackserlebnisse der Kindheit sind Schlüsselereignisse“, sagt Albrecht Lehmann, Kulturwissenschaftler am Hamburger Institut für Volkskunde. „Schmecken und Riechen sind die Sinne des Gedächtnisses.“ Aber die Speise selbst spielt dabei eine untergeordnete Rolle, es ist die Situation, die im Vordergrund steht: eine fürsorgliche Großmutter, zermürbender Nachkriegshunger, Geschrei am Abendbrottisch. Ob positiv oder negativ, jede Kindheitsatmosphäre wird auf die Nahrung übertragen; „Geschmacksmemorate“ nennt Lehmann das. Wer sich nach dem Krieg immer nur von Kartoffeln und Brotsuppe ernährt hat, muss also nicht zwangsläufig eine Abneigung dagegen entwickeln. Ganz im Gegenteil. In Deutschland hatte sich bis in die Fünfzigerjahre hinein eine Art Hungerritual eingebürgert: An den sogenannten Erinnerungstagen kochte man typisches Lageressen, „Not-Novationen“ wie Kaffeeersatz und Butterersatz kamen auf den Tisch, um an die schweren Zeiten zu erinnern. Die Erinnerungstage haben nicht überlebt. Offenbar war die Konkurrenz, das gute Essen, zu übermächtig.

Bemerkenswert am gescheiterten Nachkriegsritual ist der Versuch, die Erinnerung bewusst zu stimulieren, ganz anders als bei Proust, bei dem die Vergangenheit unversehens über den Madeleine-Esser hereinbricht. Aber die „Erinnerungstage“ unterscheiden sich noch in einem anderen Punkt wesentlich von der Proust’schen Erinnerung: Muckefuck und Mandelmilch waren nicht nur Teil individueller Essgewohnheiten. Sie waren Teil des kulturellen Gedächtnisses einer bestimmten Generation – und somit identitätsstiftend. Die kulturelle Dimension von Essen sei riesig, betont Lehmann. Die Vorlieben für und Abneigungen gegen bestimmte Gerichte zeigten sich in den vielen regionalen Küchen. Um zu erkennen, wie stark sich Gruppenidentitäten auf gewisse Speisen beziehen, genüge der Besuch eines beliebigen deutschen Schützenfests: „Spezialitäten besitzen eine starke Bindekraft.“

Wer Schupfnudeln mit Sauerkraut serviert, Saure Zipfel zubereitet oder Berliner Ballen (Pfannkuchen) backt, hält die Erinnerung an die Speisen seiner Region wach und schreibt die Tradition dieser kulturellen Gemeinschaft fort. Dietrich Harth kennt badische Spezialitäten wie Dampfnudeln mit Vanillesoße zur Genüge – er lehrt an der Universität Heidelberg, Schwerpunkt „Gedächtniskultur“. Sein Sonderforschungsbereich trägt den Titel „Ritualdynamik“. „Tradition lebt von Ritualen“, stellt er fest. „Und die Kombination von Speisen, wie sie für die einzelnen Regionalküchen typisch ist, stellt eine Ritualisierung dar.“ Barth hat allerdings seine Vorbehalte, wenn es um das regionale Rezeptreservoir als Identitätsstifter geht. Für ihn ist Identität etwas Dynamisches, etwas, was immer im Fluss ist. Erhebt man nun regionale Spezialitäten in den Status kollektiver Gültigkeit, taugen sie nicht mehr als Identitätsbezug, denn Traditionen sind nicht zwangsläufig statisch: Sie werden adaptiert und interpretiert, sind also einer steten Wandlung unterworfen. Erinnern sei Reflexion, sagt Harth, man rekonstruiere das Vergangene: „Wiederholen schreibt die Erinnerung fort, doch immer leicht verändert.“ Und das gilt letztlich auch für jene Gesten, die sich zu Essensritualen aneinanderfügen. „Wenn alle um den Tisch sitzen und man sich ‚Guten Appetit‘ wünscht, dann ist das ein gemeinschaftsstiftendes Moment“, eine „Erinnerungsgemeinschaft“ entstehe. Früher, fügt Harth hinzu, früher habe mitunter noch dazugehört, dass man zuvor betete und sich die Hand reichte. Die Männer bekamen die größeren Bratenstücke, und der Vater als Familienoberhaupt durfte als Erster zu essen anfangen. In seinem gerade erschienenen Buch seziert Jean-Claude Kaufmann diese Familienrituale bei Tisch geradezu – die „Kochende Leidenschaft“ behandelt die „Soziologie vom Kochen und Essen“.

Wer wie Prousts Figur Marcel latent unglücklich ist oder schlicht an Heimweh leidet, knüpft in trüben Momenten an eines jener tradierten Rituale an, um das Gemüt zu erhellen: Stimmungsumschwünge kann man provozieren. Ein simples Rezept, denn als ausgewiesene Gedächtnissinne machen es einem die Geruchs- und Geschmacksnerven ziemlich einfach. Über die Erfolgsgeschichten der Auswanderer, die in Kanada oder Brasilien ihre Landsleute mit Graubrot, Brezeln und Mohnsemmeln versorgen, muss man sich da nicht wundern. Schließlich heißt auch deutsch sein in erster Linie: Brotesser sein. Dies merkt vor allem, wer sich vom einig Vollkornbrotland entfernt. Umgekehrt haben sich sogar in Kleinstädten wie Bonn rund um die Moschee in der Altstadt türkische und arabische Tante-Emma-Läden angesiedelt. Ein bisweilen fast kitschig anmutendes Idyll: Zwischen Importkonserven und Fladenbrot in allen Varianten ist vor allem ein Stück kultureller Heimat im Angebot.

„Heimattourismus“ nennt der Kulturwissenschaftler Lehmann dieses Phänomen. Aber dazu muss man nicht emigrieren, das gibt es auch in kleinem Stil. Man denke nur an die „Maultaschenfabrik“ oder die „Ständige Vertretung“ in Berlin, die die schwäbische und die rheinländische Diaspora in der Hauptstadt mit heimischer Nahrung versorgen. Die Stuttgarter und die Bonner pilgern in ihre Kultstätten und partizipieren dort an Ritualen, die ihre regionale Identität aufpäppeln. Doch dabei sind weder die Maultaschen noch „Himmel un’ Ääd“ das Entscheidende. Albrecht Lehmann meint, es ist es allein die Situation, die zählt: „Die Kneipe sieht aus wie zu Hause, die Leute dort sprechen den gleichen Dialekt, sie kennen die Traditionen.“ Diffuse Anfälle von Heimweh würden so im Keim erstickt. Man geht dorthin, um ganz bewusst das eigene kulturelle Gedächtnis zu stimulieren – individuelle Biografien und kollektive Traditionen überlappen sich genau an diesem Punkt.

Doch was passiert, wenn die Regionalküchen immer mehr verschwinden? Gerade im sogenannten Westen ernähren sich Kinder vermehrt von „Global Food“ wie Spaghetti, Pizza und Burgern. „Der kulturelle Wandel verfestigt sich“, sagt Harth: Von frühester Kindheit an gibt es nur noch McDonald’s, die ersten Erinnerungen an Essenserlebnisse entsprechen dem. Der spezifische Heimatbezug fällt weg: Wo es Pizza gibt, bin ich zu Hause. Die Folge könnte sein, meint Harth, dass sich diese Generation überall heimisch fühle.

Generell verlieren die Traditionen ihre „normative Kraft“, die wenigsten wissen noch, warum sie kochen, was sie kochen und essen, wie sie essen. Aber auch wenn die Verbindung zum ursprünglichen Anlass längst unterbrochen ist: Speisen sind Gedächtnisstützen, ein Stück komprimierter Geschichte. Wer Pfälzer Saumagen isst, verbindet damit eher Helmut Kohl als die Pastete der französischen Besatzer um 1800. Wer eine Hochzeitstorte anschneidet, denkt nicht im Traum daran, dass er gerade symbolisch das Hymen der Braut zerschneidet. Wer freitags nur Fisch und Vegetarisches auf dem Kantinenspeiseplan entdeckt, weiß oft nichts mehr vom christlichen Hintergrund der Sitte. Und wer Maultaschen aufgabelt, kennt vielleicht noch den schwäbischen Begriff „Hergottsbscheißerle“, ahnt aber sicher nicht, dass der Teigmantel das leckere, in der Fastenzeit jedoch verbotene Fleisch vor dem Auge Gottes verstecken sollte.

Religiöse Symbolik ist nach wie vor ein elementarer Teil unseres kulturellen Speisengedächtnisses. Die meisten unserer Speisezeremonien haben einen explizit religiösen Bezug, das Tischdecken ist ein Verweis auf Opferzeremonien, der Christstollen symbolisiert das warm eingepackte Jesuskind. Wir reproduzieren diesen Teil unseres christlich-heidnischen Gedächtnisses, konsumieren und halten ihn so am Leben. Besonders kurios in diesem Zusammenhang ist die Brezel, nicht umsonst das Zeichen der Bäckergilde. Erstaunlicherweise bildet dieses Backwerk ein anderes Ritual ab, das ebenfalls als dynamischer Gedächtnisspeicher funktioniert: Die gemeine Brezel ist ein Bild vom Beten. Genauer gesagt, von der Gebetsperformance, wie sie zur Entstehungszeit etwa um 750 nach Christus üblich war: die Arme über der Brust gekreuzt und über die Schultern geschlungen – voilà, der Brezelknoten!

Auch wenn die Codes oft längst verschüttet sind: Es gibt Fälle, in denen die Speise als Speichermedium noch funktioniert, immer wieder sonntags: „Er nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset; das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Solches tut zu meinem Gedächtnis.“

ANNE HAEMING, 28, ist promovierte Anglistin und lebt als Journalistin in Bonn