Der Aufklärer als Alleinunterhalter

Die Fortsetzung einer unendlichen Geschichte: „Lehmen lernt“ im Podewil beim Festival „Tanz im August“

Er steht wieder allein auf der Bühne. Im Blaumann und irgendwann sogar mit Clownsnase. Ein Alleinunterhalter, der so ehrlich wie möglich beschreibt, was man im Leben so alles lernen kann.

Die Performance „Lehmen lernt“, mit der Thomas Lehmen im Rahmen von „Tanz im August“ auftrat, ist strukturiert wie eine Liste, die von elementaren Dingen zu komplexen Handlungen aufsteigt. Dass man im Prozess des Lernens immer noch etwas weiterkommen kann, ist eine Motivation für dieses Stück; dass allem Gelernten zum Trotz die Menschheit irgendwie resistent gegen ihre eigenen Erkenntnisse scheint, ist der Widerstand, an dem sich dieser pädagogische Furor reibt.

Lehmen ist der Arbeiter unter den Choreografen aus Berlin, und ein ganz besonderes Verhältnis zur Produktion prägt alle seine Stücke. Um auszuloten, was die Produktion von Kunst von der Produktion anderer Dinge unterscheidet, hat er mit großen und flexiblen Kollektiven gearbeitet. Sein „Schreibstück“ (2002) gab einen Satz von Handlungen vor, die von verschiedenen Choreografen nacheinander und dann wie ein Kanon nebeneinander vorgestellt wurden. Für „Stationen“ (2004) holte er sich Vertreter unterschiedlicher Berufsgruppen hinzu, um ihre Systeme der Herstellung von Mehrwert mit denen des Tanzes zu vergleichen. In „Lehmen lernt“ ist er zur Form seiner früheren Solos zurückgekehrt.

„Ich habe gelernt zu schreien, ich habe gelernt zu atmen.“ Am Anfang ist der Kontext noch eindeutig und biografisch, man sieht das Kind und speziell diesen kleinen Thomas vor sich, der sich in einer Sequenz der Selbsthypnose auch in seine Kindheit zurückbeamt. Komplizierter wird es schon, wenn nicht nur Techniken wie Selbsthypnose auf der Liste auftauchen, sondern auch Kriegsführung, Raketenflüge zum Mond und die Beherrschung von 6.885 Sprachen. Da ist aus dem biografischen Ansatz die Geschichte des Menschen geworden.

Aber Lehmen redet nicht nur, sondern streut an ausgewählten Punkten kurze Demonstrationen ein. Die beginnen zunächst redundant und pantomimisch, probieren sehr bald aber schon verschiedene Bewegungssprachen wie wechselnde Kostüme aus und bleiben dabei öfters an Nachahmungen des Tierischen hängen. Plötzlich sehen wir vor uns einen Affen, den man sehr vergnügt dabei beobachtet, wie er eine Schachtel untersucht. Der Staub in dieser Schachtel dient kurz darauf zur Demonstration der erstaunlichen Fähigkeit Lehmens, im Staub zu lesen. Da liest er zum Beispiel: „Drei Frauen im Publikum sind schwanger, eine weiß es noch nicht“, und dann etwas, was ihn so entsetzt, dass er es gar nicht aussprechen will, sondern nur verzweifelt die Hände vors Gesicht schlägt.

Es ist dieser Wechsel zwischen dem Festhalten an ganz Konkretem, das zwischen Wortsinn, Bedeutungsraum und dem, was wir sehen, keine Lücke lässt, und dem plötzlichen Loslassen, dem Aufziehen von Imaginationsräumen auf kürzester Strecke, das der Performance Spannung gibt.

Das Stück endet … ja, wie eigentlich? Optimistische und pessimistische Varianten legen sich übereinander. Die optimistische ist die Vorführung eines Films, der Lehmen beim Lernen unterschiedlicher Dinge zeigt: Kuchen backen, Helikopter fliegen, Architektur entwerfen, einen Bahnsteig fegen. Pessimistisch hingegen ist die Anmoderation des Films: Er weiß ja, sagt er, dass kaum jemand mehr das als Utopie teilen will, dass jeder Mensch den anderen etwas von seinen speziellen Fähigkeiten beibringen kann. Ganz am Schluss fegt er die Bühne, professionell wie die Männer auf den Bahnsteigen. Ob man das optimistisch oder pessimistisch findet, bleibt einem selbst überlassen.

KATRIN BETTINA MÜLLER