Die Schleuse ins gelobte Land

Die allermeisten Menschen, die mit Hilfe von Schleusern nach Berlin kommen, sind Vietnamesen und Chinesen. Oft werden sie von ihren Familien geschickt, um Geld zu verdienen. Wie ihr Leben in Deutschland aussieht, verschweigen sie den Verwandten

von Marina Mai

Wenn in Berlin Fälle von Schleusung bekannt werden, sind in 80 Prozent der Fälle Vietnamesen und Chinesen betroffen. Tendenz: steigend. Vor ein paar Wochen entdeckte die Polizei 19 Chinesen in einer Neuköllner Wohnung und nahm zwei Schleuser fest. Einen Tag später kostete eine Verfolgungsjagd mit der Polizei sechs Menschen das Leben: Das Auto, in dem neben vier vietnamesischen Flüchtlingen die Schlepper aus Tschechien und Vietnam saßen, raste bei Königs Wusterhausen gegen einen Baum. Seit gestern müssen sich sieben Vietnamesen und ein Deutscher wegen Schleusung vor dem Landgericht verantworten (siehe Text unten).

Nur eine kleine Minderheit dieser Menschen flieht vor politischer oder nichtstaatlicher Verfolgung nach Deutschland: so genannte ethnische Christen etwa, politische Dissidenten oder auch lesbische Frauen aus Vietnam. Für die meisten Chinesen ist Berlin nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Großbritannien, Spanien oder Italien, sagt die Polizei.

Dagegen seien die allermeisten Zuwanderer aus Vietnam „Goldgräber“, die in Deutschland reich werden wollen, erzählt ein Vietnamese, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Meine Landsleute, die noch nie in Europa waren, denken, hier brauche man das Geld nur von der Straße aufzufegen. Und dann beschließt der Familienrat in Vietnam, welches Familienmitglied nach Europa fährt, um ihnen das Geld zu schicken.“

Nach Europa, das heißt in vielen Fällen: nach Berlin. Hier lebt mit 11.000 Landsleuten die drittgrößte vietnamesische Gemeinde des Kontinents, nach Paris und London. „Von ihnen geht die Botschaft aus: In Berlin kann man reich werden“, sagt Tamara Hentschel vom Verein Reistrommel, einem Beratungszentrum für Menschen aus Südostasien. „Die meisten Migranten erzählen in Vietnam völlig unrealistisch von ihrem Leben in Berlin. In Wirklichkeit geben sie ihr letztes Hemd oder verschulden sich, um die Verwandten in der Heimat finanziell zu unterstützen.“ Wenn sie den Familienoberhäuptern dort erzählten, unter welchen Bedingungen sie ihr Geld verdienen, würden sie ihr Gesicht verlieren. „Lieber verbreiten sie in Vietnam, sie wären hier reiche Leute.“ In manchen Fällen sind es die Vietnamesen in Deutschland, die die Schleuser bezahlen, um ihre Verwandten nachkommen zu lassen. Das tun sie auch nicht immer freiwillig, sondern oft auf Druck des Familienrates in Vietnam.

Tamara Hentschel sieht darin auch ein Integrationsproblem. „Wenn die Integration der Familien so weit fortgeschritten wäre, dass ein Gesetz mehr wert wäre als ein Beschluss des Familienrates, wäre schon viel getan“, sagt die Sozialarbeiterin, die auch Opfer von Schleusern berät. In ihrem Verein habe sie schon Vietnamesinnen geholfen, die auf dem Weg nach Deutschland von Schleusern zur Prostitution gezwungen wurden. Andere hatte man im Winter in einem Heuschober in Sachsen ohne Lebensmittel zurückgelassen. Sie wären fast erfroren.

Die wenigsten Vietnamesen wollen mit der Presse über den Druck durch ihre Verwandten sprechen, weitere Familienmitglieder ins vermeintlich gelobte Land zu holen. Auskunft gibt die ehemalige Lebensgefährtin eines Vietnamesen: „Ich habe mit meinem damaligen Freund fast zwei Jahre zusammengelebt. Ich wollte eine Familie gründen, Kinder bekommen. Aber seine Verwandten in Vietnam verlangten von ihm, stattdessen seine Schwester hierher zu holen und für ihre Flucht zu bezahlen.“ Die Schwester fand in Vietnam keine Arbeit und sollte deswegen in Berlin Zigaretten verkaufen.

Nach den Vorstellungen der Familie in Vietnam sollte das deutsch-vietnamesische Paar samt Nachwuchs seine Zweiraumwohnung mit der Schwester teilen. „Das konnte ich mir absolut nicht vorstellen“, sagt die Berlinerin. Andererseits wollte sie ihrer künftigen Schwägerin auch kein Leben als Zigarettenverkäuferin zumuten, ständig in Angst vor der Polizei und rechten Schlägern. Sie habe ihr eine E-Mail geschickt und auf Englisch beschrieben, wie die Zigarettenverkäufer hier leben. „Sie hat mir kein Wort geglaubt.“

Die Frau trennte sich von ihrem Freund und zog aus. „Einige Monate später wohnte seine Schwester dort. Sie war mit Hilfe von Schleusern unter falschem Namen eingereist. Mein Exfreund hat sie geheiratet, damit sie ein Aufenthaltsrecht bekommt.“ Er habe auf die Gründung einer eigenen Familie verzichtet, um seine Schwester und die Eltern zu unterstützen.

Die Ausländerbeauftragte von Marzahn-Hellersdorf, Elena Marburg, weiß, dass Migranten „in ihren Herkunftsländern den dicken Max spielen, vor allem wenn es ihnen hier wirklich schlechtgeht. Sie holen sich dort die Anerkennung, die ihnen hier verwehrt wird.“ In Internetforen habe sie von Vietnamesen gelesen, die in Berlin so sparsam leben wie irgend möglich und auf einem Vietnamurlaub mit geliehenem Geld nur so um sich werfen, um anerkannt zu sein. „Das zeichnet dort natürlich ein völlig falsches Bild vom Leben in Deutschland. Ich sehe auch die deutschen Auslandsvertretungen in der Pflicht, eine bessere Aufklärung zu betreiben.“ Und: Sehr viel effektiver als Polizeiarbeit, so Marburg, wäre deshalb eine bessere „mentale Integration von Zuwanderern in unser Normen- und Wertesystem“.

Tamara Hentschel vom Verein Reistrommel hat noch einen anderen Vorschlag: „Man sollte den Eltern der hier lebenden Migranten großzügiger Besuchsvisa erteilen.“ In einer Großfamilie mit drei Generationen hätten üblicherweise die Alten das Sagen. Hentschel weiter: „Ich habe oft erlebt, dass sie während eines Deutschlandbesuchs erstaunt darüber waren, dass ihre Kinder sieben Tage in der Woche für ihr Geld arbeiten und keine Ausflüge mit ihnen unternehmen können. Hat man das einmal selbst gesehen, wird man keinem anderen Familienmitglied ein solches Leben zumuten.“