Das Ziel ist der Weg nach Hause

60 Jahre Nordrhein-Westfalen – und einer hängt immer dazwischen: der Ruhrgebietler

Fast wäre es untergegangen, das große Jubiläum angesichts der Weltlage, die wie immer keine Rücksicht auf Nordrhein-Westfalen genommen hat. Jedenfalls wird das bevölkerungsreichste Bundesland in diesem Jahr 60. Nur einer weiß nicht recht, was er davon halten soll: der Ruhrgebietler. Aber fragen wir doch unseren Experten, den Dortmunder Wahrheit-Autor Fritz Eckenga:

Ja, was isser denn jetzt eigentlich, der Ruhrgebietler? Isser Nordrheiner? Isser Westfale? Oder was isser?

Nach der Antwort müssen wir nicht lange suchen. Der Ruhrgebietler ist nämlich ein Suchender. Und wonach sucht er? Jedenfalls nicht nach seiner Identität. Für so was hat er keine Zeit. Er ist nämlich unterwegs. Nach Hause. Zu sich. Weit weg ist er nicht von zu Hause, er befindet sich bereits im Ruhrgebiet, ist also, wie er selbst sagt, „hier inne Nähe, quasi umme Ecke“. Trotzdem ist es ungewiss, wann er sein Zuhause erreicht. Als Ruhrgebietler im Ruhrgebiet unterwegs zu sich nach Hause zu sein heißt nämlich in 95 von 100 Fällen, dass man gerade im Auto sitzt. Das Auto aber steht. Und zwar auf der Bundesstraße 1, der B1. Je nachdem, wo man gerade auf der B1 steht, heißt sie auch A40. Die variierende Bezeichnung ist für den Ruhrgebietler aber von untergeordneter Bedeutung. B1 und A40 sind für ihn nur zwei verschiedene Namen für denselben Zustand: Das Ziel ist der Weg nach Hause.

Die nahe liegende Schlussfolgerung, der Ruhrgebietler sei eigentlich nie zu Hause, ist deswegen falsch. Wenn er, wo auch immer, auf der B1 steht, ist er im Gegenteil ganz bei sich. Er ruhrt sozusagen in sich selbst. Er ist unterwegs, aber er steht. Er befindet sich auf einer Reise, weiß aber, dass diese Reise nicht zwangsläufig aus einer Bewegung bestehen muss. Er weiß deswegen auch, dass das Zuhause ein Zufallsort ist. Immer und gleichzeitig auf dem Weg zu sich nach Hause hier ganz inne Nähe, praktisch umme Ecke, und trotzdem schon angekommen zu sein, ein solch transzendenter Zustand wird ansonsten nur von ganz ausgeschlafenen tibetanischen Mönchen nach Jahrzehnten knüppelharter, meditativer Maloche erreicht.

Ist der Ruhrgebietler also der Buddhist unter den Nordrhein-Westfalen? Kann man so sagen. Er hat sein Mantra gefunden. „Kommsse heut nicht, kommsse morgen“ ist nicht von ungefähr der wahrscheinlich erste Satz, den man von ihm hören wird, wenn man ihn mal außerhalb seines Fahrzeuges jenseits der B1 antrifft. Die diesem Ausspruch innewohnende Weisheit ist nicht in Volkshochschulkursen angelernte Stressbewältigungstechnik, nicht Yoga für jedermann, sie ist im ganz engen Wortsinn „auf der Straße“ erworben worden. In 95 von 100 Fällen auf der B1. In den anderen fünf Fällen auf den Ausweichstrecken, also auf der A1, der A2, der A42, der A43 oder auf der A45.

Irgendwo im Ruhrgebiet jedenfalls. Also inner Nähe von Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Essen, Mülheim, Duisburg, Oberhausen, Bottrop, Gladbeck, Dorsten, Marl, Herten, Recklinghausen, Castrop-Rauxel, Lünen, Werne, Hamm, Kamen, Unna, Schwerte, Hagen, Hattingen – oder in einem der zahlreichen Vororte dieser Orte. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen, der Ruhrgebietler weiß, wohin die Reise geht. Quasi umme Ecke.

FRITZ ECKENGA