Ein unangreifbarer Porno-Star

SCHWANKHALLE Als Klassiker der Theater-Postmoderne gelten Martin Crimps „Angriffe auf Anne“: In Anja Wedigs Regie hat das Alte-Liebe-Ensemble mit ihnen die Spielzeit eröffnet

Nächste Vorstellungen von „Angriffe auf Anne“:

■ Samstag (heute) sowie 16.-18.9. und 14.-16.10. jeweils 20 Uhr, Schwankhalle.

■ Karten & Reservierungen: ☎ (04 21) 700 141 und auf www.schwankhalle.de

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Warum Martin Crimp ausgerechnet „17 Szenarios für Theater“ zu dem Skript „Angriffe auf Anne“ zusammengefasst hat, und nicht 17 mal 17 oder nur acht, ist offen. Und auf diese Frage hat auch das Alte-Liebe-Produktions-Ensemble, in der Regie von Anja Wedig, keine Antwort: Am Mittwoch war Premiere, Schwankhallen-Saisonauftakt, durchaus mit starken Momenten, aber sicher weiß man am Ende nur: 17 Szenarios sind schon eine ganze Menge. Und 289 wären definitiv zu viele.

Denn das Textbuch, von postmodern inspirierter Philologie bald zum „masterpiece“ hochgejazzt, hat seit der Uraufführung 1997 an Brisanz verloren. In allen Szenen ist Anne (manchmal heißt sie Anya, Anuschka oder gar Anny) Hauptperson. Um sie kreisen alle Dialoge der anonymen SprecherInnen. Und nie tritt sie auf, ganz wie Godot. Sie wird nicht erscheinen – und, Unterschied zu Samuel Beckett: Die Zuschreibungen von außen sind widersprüchlich. Anne ist traumatisiertes Kriegsopfer, Pornostar, Mitglied einer faschistoiden Sekte, Terroristin, und psychotische Kindsmörderin, all das, also nichts. Crimp beabsichtige damit „nicht nur zu fragen, ob wir überhaupt ein anderes menschliches Wesen wahrhaftig kennen können“, raunte seinerzeit David Edgar, sondern sogar „auch, ob wir es vermögen, andere Leute als unabhängig von den Modellen existierend zu betrachten, die wir uns von ihnen machen“ – Antwort heute: nö. Aber damals, als Derrida noch lebte und Lyotard gerade frisch begraben war, da fingen bei so Themen echt die Köpfe an zu qualmen. Multiple Existenz! Durchgestrichenes Sein! Ende der großen Erzählungen! Alles drin in Crimps „Attempts“: Und so hat Anja Fußbach mit einer geil-roten, mannshohen Damenhandtasche, in der alles drin sein kann und nichts, die schönste ihrer schönen Bühnenbild-Requisiten geschaffen.

Die markieren, im Raum verteilt wie Inseln, die Spielorte. Dazwischen sitzen, auf Kartons, die ZuschauerInnen, zerstreut, gelangweilt oder gebannt, je nachdem. Vor allem: je nach Szene. Fesselnd ist der Beginn: Ein intensiv geführter Dialog der Spielenden, die sich über den Verbleib eines merkwürdigen, unmöglichen, wunderbaren Gegenstands in Annes Wohnung, der vielleicht ein Aschenbecher ist, unterhalten oder die Mäuler zerreißen: Corinna Mindt, Marcel Klein, Liz Hencke und Felix Reisel sprechen diesen Auftakt konzentriert und ausdrucksstark. Und die vollendete Irrelevanz ihres Small-Talks und seine latente Aggression verunsichern und amüsieren zugleich – das schwebt, das ist, ganz handlungsfrei, doch spannend. Radikal ist der Zugriff jedoch nur im elften Szenario: Es ist der erbitterte Streit von Kunstkritikern über die suizidale Künstlerin Anne, den Wert ihrer Werke und ihre psychische Gesundheit. Seine Verbalmunition bezieht er, bösartig, aus einer diagnostischen Reizwortliste von C. G. Jung. Und ausgetragen wird er von Liz Hencke, alleine mit sich selbst: Die in sich gespaltene Person als Spiegel der in 17 Szenarios zerfetzten, unangreifbar in alle Winde zerstreuten Figur – vielleicht wäre das ein echter Regie-Ansatz gewesen, einer der trägt, und mehr als ein starker Moment in einem recht gemischten Abend.