Anspannung auf Rasen und Rängen

ABSTIEGSKAMPF Viele hohe Bälle und wenige durchdachte Spielzüge prägen das 100. Nordderby. Am Ende gewinnt Werder Bremen gegen den Hamburger SV, weil es die Zone vor dem eigenen Strafraum konsequent bearbeitet

Vor Spielbeginn wurde eine der furiosesten Kurvenchoreografien der Bundesliga-Geschichte ausgerollt

AUS BREMEN RALF LORENZEN

Sechs Minuten ließ Schiedsrichter Florian Meyer nachspielen; sechs Minuten, in denen die Hamburger hofften, noch die eine große Chance zu bekommen, die es bei engen Spielständen meistens gibt; sechs Minuten, die Werders Trainer Robin Dutt später besonders heraushob, weil seine Mannschaft diese Chance eben nicht mehr zuließ; sechs Minuten, in denen die seit Wochen aufgebaute Anspannung rund um das 100. Nordderby in die Verlängerung ging.

Verantwortlich für diese sechs Minuten war zum einen die schwere Knieverletzung des Hamburger Innenverteidigers Slobodan Rajkovic, die sich nach dem Spiel als Kreuzbandriss herausstellte. Und zum anderen ein minutenlanges bengalisches Feuer im Fanblock der Bremer kurz nach der Pause, während dessen Meyer die Partie ruhen ließ und sich die Zündler mit Teilen der anderen Werder-Fans ein erstaunliches Nebengefecht lieferten, in dem unter anderem „Ihr seid scheiße, wie der HSV“ gesungen wurde.

Leicht machte es sich beim Sortieren von Gut und Böse lediglich der Stadionsprecher, für den klar war, dass das Leuchtfeuer nicht von den „richtigen“ Fans ausging. Und der dabei wie viele andere Kommentatoren ausblendete, dass es in derselben Ecke brannte, in der vor Spielbeginn eine der furiosesten Kurvenchoreografien der Bundesliga-Geschichte ausgerollt worden war. Über die gesamte Breite der Ostkurve wurden nacheinander mehrere Seiten eines Buches aufgeschlagen, das in riesigen, bunten Bildern, untermalt von Klängen aus „Fluch der Karibik“, das Märchen der hundert Nordderbys erzählte. 45.000 Euro hatten die Ultras im Vorfeld für die Herstellung des Werkes gesammelt, und sie belohnten sich für diese umjubelte Inszenierung nach der Pause mit jenem viel gescholtenen Feuerwerk.

So differenziert wie die Fankultur ist der Fußball im Norden momentan nicht. Viele hohe Bälle und wenige durchdachte Spielzüge kennzeichneten das Geschehen auf beiden Seiten. Mit zwei brillanten Ausnahmen: Aaron Hunts Hackenvorlage zum 1:0 durch Zlatko Junuzovic in der 19. Minute und Hakan Calhanoglus Schlenzer an die Latte kurz vor der Pause, der trotz 57 Prozent Ballbesitz die einzige wirkliche HSV-Chance im gesamten Spiel blieb.

Mehr war nicht zu erwarten von einer Begegnung, die im Vorfeld derart zum Schicksalsspiel hochgepuscht worden war, dass Werders Sportdirektor Thomas Eichin schon das Gefühl bekam, „dass der Verlierer des Derbys den Spielbetrieb einstellen muss“. Sichtbarster Ausdruck dieser Anspannung waren rund tausend Polizisten und zwei vor dem Stadion postierte Wasserwerfer. Immer wieder gab es Scharmützel, der HSV-Mannschaftsbus wurde beworfen, 15 Fans wurden aus dem Verkehr gezogen sowie ein mit rechten Hooligans besetztes Ausflugsschiff.

Die Anspannung setzte Werder auf dem Platz in eine aggressive Spielweise um, die den Gegner wenig zur Entfaltung kommen ließ. In der gefährlichen Zone vor dem eigenen Strafraum, die in der Vergangenheit besonders oft anfällig für gefährliche Angriffe war, bearbeiten die Bremer ihre Gegenspieler mittlerweile intensiv – und lassen ihnen dafür viel Raum auf den Flügeln. Wenn der Gegner, wie der HSV, diesen Raum vor allem für hohe Flanken nutzt, droht gegen die kopfballstarke Innenverteidigung, in der Sebastian Prödl seit Wochen in Hochform spielt, kaum Gefahr. Bremen hat mit dieser wenig attraktiven, aber effektiven Spielweise jetzt dreimal hintereinander nicht verloren.

Auch Mirko Slomka, der letzte Woche mit dem 3:0 gegen Borussia Dortmund einen hoffnungsvollen Einstand gefeiert hatte, hatte die Taktik und Aufstellung der Hamburger ganz auf Abstiegskampf eingestellt und setzte auf lauf- und kampfstarke Spieler. So ließ er den wieder genesenen Rafael van der Vaart zunächst auf der Bank. Die Unruhe der letzten Monate ist der Mannschaft aber noch deutlich anzumerken. Im Abstiegskampf kann sie sich nicht immer auf Einzelaktion von Pierre-Michel Lasogga und Freistöße von Calhanoglu verlassen.

Umso wichtiger wird es für sie sein, in Hamburg einen ähnlich starken Schulterschluss mit den Fans hinzukriegen wie in Bremen, wo sich am Ende wieder alle lieb hatten.