Mit Jurek Becker auf Urwaldreise

Schöne Geschichten aus dem Filmarchiv: Im Kino Babylon Mitte werden Drehbücher vorgelesen, die von der Defa in Auftrag gegeben, dann aber nie verfilmt wurden. Sie waren zu frivol, zu gigantomanisch oder unpassend für die DDR

Die Defa wird 60. Anlässlich dieses Jubiläums hat sich das Babylon Mitte die Reihe „Defa-unverfilmt“ ausgedacht, auf der in szenischen Lesungen alle zwei Wochen Filmstoffe präsentiert werden, die zwar von der 1991 abgewickelten „Deutschen Film-AG“ in Auftrag gegeben, aber schließlich doch nicht realisiert worden waren. Derlei Stoffe gibt es genug: von den 4.600 im Bundesarchiv-Filmarchiv lagernden Drehbüchern sind lediglich 950 fertig verfilmt worden.

Allein fehlende Linientreue war dabei nur selten der Grund, weshalb Projekte in unterschiedlichen Stadien abgebrochen wurden. Teils war das Drehbuch dann doch zu schwach, teils – wie bei der 1965 und 1981 in Angriff genommenen Verfilmung von Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“ – scheiterten Projekte an ihrer anvisierten Größe. Der „Simplicissimus“, an dem Franz Fühmann als Autor und der Regisseur Heiner Carow so lange gearbeitet hatten, hätte mit 16 Millionen Mark fast die Hälfte des Defa-Jahresetats verbraucht. Manchmal erschien der Stoff den Verantwortlichen dann plötzlich als zu frivol, wie bei Ulrich und Irmgard Speitels „Die edlen leichten Mädchen“, das 1965 abgelehnt wurde. Manchmal war es auch nicht die Defa, die die Fertigstellung verhinderte, sondern die Autoren zogen selber ihr Szenarium zurück, wie bei Jurek Beckers „Urwaldreise“, die von Frank Beyer hatte verfilmt werden sollen.

Nachdem die „Defa-unverfilmt“-Reihe am 1. August mit einer Lesung aus dem „Simplicissimus“-Projekt begonnen hatte, war es am 15. August um die „Urwaldreise“ gegangen, einen Stoff, den Jurek Becker bereits 1968 als Hörspiel konzipiert hatte, wie seine Frau Christine berichtete. Zur Aufführung kam eine zweite Fassung von 1974.

Das Drehbuch ist eine Art Fabel. Es geht um Konrad, einen Mann Mitte dreißig, bei dem eigentlich alles prima läuft. Er hat eine schöne Wohnung mit Garten, eine gute Arbeit und außerdem hat er’s endlich geschafft, zusammen mit seiner hübschen Frau in den Urlaub ins Betriebsferienheim fahren zu können. Einen Tag bevor es losgehen soll, verlässt ihn jedoch seine Frau, letztendlich, weil sie ihn zu langweilig und selbstzufrieden findet. Da taucht sein Schulfreund Richard auf und erinnert ihn an eine heilige, mit Blut unterschriebene Abmachung aus Kindertagen. Vor 20 Jahren hatten sie sich also geschworen, in 20 Jahren in den Urwald zu reisen. Die Urwaldreise ist letztlich eine Metapher für die zu befreiende innere Wildnis, für den Ausbruch aus eingefahrenen Lebensgewohnheiten usw. Becker zog das Projekt zurück, weil er sah, dass diese Metapher in der DDR nicht funktionieren konnte.

Diese szenische Lesungen sind wunderbar. Es ist ja ganz seltsam: Man sitzt in einem vollbesetzten Café; alle sind konzentriert und still, vor dem Fenster beginnt die blaue Stunde. Da man spät gekommen ist, sieht man die vorlesenden Schauspieler nicht. Die ersten Minuten hat man das Gefühl, die Figuren durcheinanderzubringen. Mit der Zeit werden sie deutlicher und entwickeln sich im Kopf, während man gleichzeitig aus dem Fenster schaut und Wahlplakate am Rosa-Luxemburg- Platz betrachtet.

Während die Helden des Drehbuchs im Garten ein Zelt aufbauen, um dort den Urwald zu entdecken, denkt man an Rudi Dutschke, in dessen Altbauwohnung bekanntlich ein Zelt für die Kinder gestanden hatte. Dadurch, dass nur der Hörsinn beschäftigt ist, sind genug Gehirnkapazitäten frei, Verschiedenes zu tun. Man folgt der Geschichte, denkt an dies und das und kann sich dabei auch noch supergut entspannen. Unaufgeregte Diskussionen plätschern dann noch vorbei, und man ist sich ziemlich sicher, dass man am verfilmten Drehbuch weniger Freude gehabt hätte als am vorgelesenen.

DETLEF KUHLBRODT

Nächste Lesung: Dienstag, 29. 8., 19.30 Uhr. Babylon Mitte, oberes Foyer. „Schwarzweiß und Farbe“, 1981, von Regine Kühn