JUNGE FRAU MIT MAKE-UP
: Echt genervt

Wie ich mich in der Schickeria getäuscht habe!

Sie stöhnt so gekonnt genervt. In der U6 sitzt die junge Frau, in ihrem schwarzen Rock, die Beine übereinander, die Lippen angemalt. Ihr Gesicht ist orange. Cakey nennen sie das in Amerika. Gesichter, die mit Make-up zugekleistert sind und dann so teigig sind, dass man meint, sie kneten zu können. Jetzt wieder dieses Stöhnen, das Schwingen ihres Haarzopfes, wenn sie den Kopf dreht. Die ist bestimmt super busy. Hat wohl ein Meeting oder Vorstellungsgespräch. Und das soll die ganze Bahn wissen.

An der Friedrichstraße zieht Cakey einen kleinen Klappspiegel aus dem Etui. Das Schwarz glänzt, auf ihm prangen zwei Cs, die ineinander verschlungen sind. Gucci oder so was. Oder doch Chanel? Cakey spitzt die Lippen, streicht sich über den blonden Pony, der sich trotz der Überdosis Haarspray partout nicht an ihr Gesicht schmiegen will. Mit dem nächsten Stöhner versteckt sie den Spiegel wieder in ihrem Täschchen.

Stadtmitte. Menschen kommen, Menschen gehen, Cakey stöhnt. Eine Frau stellt sich in die Mitte des Ganges. „Guten Tag, ich bin obdachlos und habe kein Essen. Über etwas Kleingeld oder eine andere Spende würde ich mich sehr freuen.“ Während die Frau durch die Reihen geht, kramt Cakey wieder in ihrem Täschchen. Diesmal zückt sie aber nicht das Etui. Sie öffnet die goldenen Bügel ihres Portemonnaies und schiebt die Münzen darin umher. Wie ich mich in der Schickeria getäuscht habe! Ich wundere mich, wieso ich mal wieder einem Klischee verfallen bin, und schäme mich ein bisschen für meine Cakey-Gedanken. Um am Abend beruhigt einschlafen zu können, packe ich aus meiner Tasche die Bäckertüte mit dem Donut, den ich gerade gekauft habe. Ich gebe ihn der Obdachlosen, sie bedankt sich und geht weiter. Ich sehe, wie Cakey lächelt. Dann schiebt sie die Bügel ihres Portemonnaies wieder zusammen und stöhnt.

JULIA NEUMANN