Getrübte Vorfreude

WETTLAUF In 100 Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Die Regierung verspricht das Turnier der Turniere. Doch daran will schon lange kaum mehr jemand glauben

Ganze Infrastrukturprojekte wurden komplett eingestampft. Vieles, was die Gastgeber für die WM versprochen hatten, wird erst zu Olympia 2016 in Rio de Janeiro fertig – wenn überhaupt

AUS RIO DE JANEIRO MAIK ROSNER

An der Copacabana könnte es schon losgehen. Die professionellen Sandburgenbauer am berühmtesten Strand der Erde haben wie immer ganze Arbeit geleistet und kunstvolle Paläste erschaffen, filigran und mannshoch zugleich. Auf dem vier Kilometer langen Strand wird gekickt und genossen, die Stimmung ist ausgelassen. Der Karneval befindet sich gerade in der Hochphase in Rio de Janeiro, und zumindest an der Copacabana ist bereits alles hergerichtet, um die Welt zu einer gigantischen Strandparty zu empfangen. Die erhoffen sich die erwarteten 600.000 Touristen ja von der Copa do Mundo, der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien vom 12. Juni bis 13. Juli.

Doch spätestens hinter der Promenade Avenida Atlântica beginnen die Probleme, die keine Postkartenkulisse überdecken kann. Es gehört zwar zu den üblichen Reflexen, Schreckensgemälde zu zeichnen vor Großveranstaltungen im Sport, aber die Lage ist in der Tat ernst. Die Uhr, die die Tage an der Copacabana zählt und an diesem Dienstag die 100-Tage-Marke bis zum Beginn der WM anzeigen wird, darf man auch als Warnung verstehen. Es sind nur noch 100 Tage bis zur großen Kickermesse – und nicht nur bei manchen Stadionbauten hinkt Brasilien dem vom Weltfußballverband Fifa gesteckten Zeitplan spektakulär hinterher.

Die unfertigen Arenen in den Spielorten Cuiabá, Curitiba, Manaus und São Paulo, wo die Seleção am 12. Juni gegen Kroatien das Eröffnungsspiel austragen wird, sind dabei nur die unübersehbaren Menetekel einer mindestens von Problemen durchzogenen und ungeordneten Vorbereitung. Ganze Infrastrukturprojekte wurden komplett eingestampft, vieles, was die Gastgeber für die WM versprochen hatten, wird erst zu Olympia 2016 in Rio de Janeiro fertig – wenn überhaupt. Für Kritiker wie Romário, der sich vom Fußballweltmeister zum Politrebellen gewandelt hat, ist es ein von „Gaunern und Banditen“ angerichtetes Chaos, in dem sein Land aufs Turnier zusteuert – und „eine Blamage“.

Die Organisatoren geben sich dennoch unverdrossen optimistisch. Präsidentin Dilma Rousseff kündigt mantraartig „a Copa das Copas“ an, die WM aller WMs, wie schon ihr Vorgänger und Parteifreund von der Arbeiterpartei PT, Lula da Silva, nach der WM 2010 in Südafrika. Man werde bereit sein, wenn es losgeht, das versprechen alle, die an der Organisation beteiligt sind. Die Fifa ist dennoch besorgt. „Es ist ein ganz knapper Wettlauf mit der Zeit, der eine laufende Überwachung erfordert“, sagte Generalsekretär Jérôme Valcke jüngst, als an Curitiba als Spielort mit großen Bauchschmerzen und notgedrungen festgehalten werden musste.

Zweifeln mag aber kaum jemand, dass Brasilien eine beachtliche Party veranstalten wird – allerdings auch nicht, dass diese einen trügerischen Eindruck vermitteln wird. Es werden vor allem die schönen Bilder sein, von Traumkulissen und lebensfrohen Menschen, die die Welt zu sehen bekommen wird. Warum die Brasilianer beim Confed Cup im Juni 2013 zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen sind und vielleicht auch vor und während der WM gehen werden, dürften die Fernsehbilder allenfalls am Rande vermitteln. 20 Millionen Menschen, ein Zehntel der Bevölkerung, haben in den zurückliegenden Boomjahren den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft. Ein historischer Erfolg. Doch noch immer fehlt es großen Teilen der Bevölkerung am Nötigsten: allen voran an einem funktionierenden Bildungs- und Gesundheitssystem. Allein in Rio gibt es rund 1.000 Armenviertel, die Favelas. Wer reich ist, kann sich alles in Brasilien erkaufen. Die meisten können das nicht. Sie blicken wütend auf eine korrupte Elite, die das nicht kümmert. So sehen das jedenfalls die Kritiker. „WM für die Reichen, Abfall für die Armen“, lautet eine ihrer Parole bei den landesweiten Protesten.

Die Verärgerung ist so groß, dass in dem völlig fußballverrückten Land die Freude über die WM merklich abgekühlt ist. Die Sympathiewerte für das mit inzwischen fast elf Milliarden Euro sündteure Turnier sind in Umfragen stark gesunken. Der Staat wappnet sich derweil mit martialischen Gesten für neue Massenproteste. Die für ihr zuweilen brutales Vorgehen berüchtigte Militärpolizei wird gerade mit neuen Kampfanzügen ausgerüstet, 150.000 Polizisten und Soldaten sowie 20.000 private Kräfte werden bei der WM eingesetzt. „Wir sind sehr gut vorbereitet, um die Sicherheit für alle zu garantieren“, sagte Rousseff. Für eine WM aller WMs, bei der für die Gastgeber nur der Titelgewinn zählt, wünschen sich ihre Landsleute und die Touristen wohl ein anderes Klima. Sie verbindet die Hoffnung auf den Jeitinho, jene berühmte Improvisationskunst der Brasilianer, mit der sich ihr Alltag irgendwie bewältigen lässt. Doch der wird in 100 Tagen für einen Monat pausieren.