Wie bei Muttern

Currywurst und Labskaus, ein berühmter Name und kein Telefonanschluss: Am Rand der Hamburger Speicherstadt hat der Fernsehkoch Tim Mälzer für seine Mutter die Oberhafenkantine herrichten lassen. Der 57-Jährigen gefällt‘s

Rotwein für 3,90 Euro – kein Wort über Rebsorte oder Anbaugebiet, einfach nur Rotwein

von CHRISTINA STEFANESCU

Es ist Donnerstagabend, gleich wird die Sonne hinter der Hamburger Speicherstadt untergehen. Die Gäste sitzen an einem quadratischen Holztisch vor der Oberhafenkantine, den Blick gen Abendrot gerichtet – ein Postkartenmotiv, gestört einzig von einem gelben Bagger. „Gericht des Tages und jede Woche anders nur nicht am Donnerstag, dann ist Rouladentag!“, verkündet die Karte. „Hallo“, sagt die Chefin des Hauses. „Haben Sie schon bestellt?“

Christa Mälzer ist 57. Ihre Haare sind kurz und grau meliert. Um Augen und Mund kräuseln sich Fältchen, wenn sie lächelt. Sie spricht leise, ihre Stimme ist tief und rau. Die Wirtin könnte gut auch als Märchenerzählerin arbeiten, mit dieser warmen, beruhigenden Stimme und der Halbmondbrille auf ihrer Nasenspitze. „Können Sie die Rouladen empfehlen?“, fragen die Gäste, zwei Studenten. Auf der Karte stehen auch Currywurst, Labskaus, Matjes oder Wiener Schnitzel. „Aber natürlich“, sagt Mälzer. Sie kredenzt Kohlrouladen an Kartoffelbrei mit gebratenen Zwiebeln. Ein Hochgenuss.

Die Chefin kocht nicht selbst, auch wenn ihr Sohn sagt, ihr Schweinebraten sei eine Wucht. Der Sohn heißt Tim und ist Deutschlands derzeit erfolgreichster Fernsehkoch. Er sagt: „Ich halte mich aus dem Laden raus. Das ist das Reich meiner Mutter.“ Und in dessen Küche kocht Kay Pelligrini. Die Oberhafenkantine ist nicht prunkvoll, elegant oder super modern eingerichtet, vielmehr unaufgeregt, einfach; das, was man wohl „urig“ nennt. Im Reich von Christa Mälzer reicht eine doppelseitig bedruckte DIN-A 4-Seite: auf der einen Seite die Speise, auf der anderen die Getränkekarte. Auf der steht das Glas Rotwein für 3,90 Euro – kein Wort über Rebsorte oder Anbaugebiet, einfach nur Rotwein – in der Zeile über dem Kümmel, 2 cl für einsachtzig.

An den Sitzmöbeln auf der Terrasse paukten früher Schüler der Seefahrtsschule. Die schweren Holztische und bänke im Innenraum stammen noch aus den Zeiten, als Anita Haendel hier ihre Kaffeeklappe betrieb. Als die 1997 starb, wurde die Oberhafenkantine geschlossen. Die Worte „Abriss“ und „Verlegung“ kursierten in Zusammenhang mit dem denkmalgeschützten Haus. Klausmartin Kretschmar, dem auch die umkämpfte Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel gehört, kaufte das Gelände, Fernsehkoch Mälzer pachtete das Grundstück. Seit Februar steht fest: Die Oberhafenkantine bleibt wo sie ist, in der Stockmeyerstraße. Ein neues Fundament gibt dem um sieben Grad geneigten Haus Halt.

Die Oberhafenkantine ist eine Art Geschenk von Sohn Tim an Mama Christa, ein Dankeschön. Christa Mälzer hat ihre Kinder nach der Scheidung von ihrem Mann alleine großgezogen, nebenher in einer Großküche gearbeitet. „Mittags hat sie uns Essen in Styroporbehältern auf die Fußmatte stellen lassen“, erzählt der Fernsehkoch. Auch später sei sie immer für ihre Kinder da gewesen. Zuletzt kümmerte sich Christa Mälzer um die Buchhaltung des Weißen Hauses, dem Restaurant ihres prominent gewordenen Sohnes, ein Stück die Elbe runter, am Museumshafen in Övelgönne.

Dass die Oberhafenkantine keine Dependance dieses Weißen Hauses werden sollte, sondern ihr Lokal, merkte Christa Mälzer erst im Verlauf der Bauarbeiten. „Kümmere dich mal um die Oberhafenkantine“, habe Tim zu ihr gesagt, als der Vertrag mit Kretschmer unterschrieben war. Christa Mälzer dachte ans Einrichten, nicht ans Ausschenken. „Ich wollte eine Entscheidung nicht ohne ihn treffen und bin zu ihm. Da hat mir seine Freundin erzählt, er habe gesagt: ,Meine Mutter soll ihren Arsch hochkriegen und für ihr Lokal Verantwortung übernehmen.‘ Erst da habe ich das kapiert.“

Jetzt ist die 57-Jährige Herrin über zwei Stockwerke plus Keller, in dem Küche und Kühllager untergebracht sind. Dazu die Terrasse und die Sitzbank hinter dem Haus, von der aus man so schön auf den Elbkanal blicken kann, der direkt an der Hinterseite der Oberhafenkantine vorbeiläuft. „Ich will dieses Stück altes Hamburg erhalten, von dem ich geglaubt habe, dass es das irgendwann nicht mehr geben wird“, sagt Christa Mälzer. „Ich kann hier jetzt etwas gestalten, was im Sinne von Anita ist, aber auch in meinem Sinne.“ Die alten Regale hinter der Theke, in denen der Essensaufzug versteckt ist, hat sie rostbraun lackieren lassen – in Anlehnung an Anitas Oberhafenkantine. Der Ausschank selbst ist neu, „leider“, wie sie sagt, aber immerhin im Stil des alten. „Um den Tresen habe ich gekämpft“, sagt Christa Mälzer. Sie meint das wörtlich. Stolz zeigt sie ein Stück Beton, 50 mal 20 Zentimeter groß, besetzt mit türkisfarbenem Mosaiksteinen. Die alten Kacheln will sie noch einarbeiten.

Seit dem Frühling gibt es in der Oberhafenkantine wieder Filterkaffee und deftiges Essen, wie damals, bei Anita. Auch wenn alle paar Minuten ein Zug vorbeidonnert, sagt Christa Mälzer über ihre Oberhafenkantine: „Es kehrt hier Ruhe ein, in dieser lauten Stadt.“ Wer diese Ruhe genießen möchte, der muss sich ein wenig bemühen. Wie eine Schatzkarte mutet der Lageplan auf der Internetseite (www.oberhafenkantine-hamburg.de) an. Eine rote Linie markiert den Weg vorbei an Baugruben und Sandbergen. Morgens kämen vor allem Bauarbeiter vorbei, sagt Christa Mälzer, mittags und abends ein gemischtes Publikum: alte Menschen, die das Lokal noch von früher kennen, Schlipsträger und junge Leute.

Dass viele nur wegen dem Namen Mälzer zur Oberhafenkantine pilgern, stört Christa Mälzer nicht. „Jemand anders hätte das gar nicht machen können“, sagt sie: ein Lokal eröffnen inmitten von Baustellen und direkt neben einer Eisenbahnbrücke, ganz am äußersten Rand der Speicherstadt. Immerhin: Auf einen Tisch muss hier keiner zwei Monate warten wie bei Sohnemann Tim im Weißen Haus. Die Oberhafenkantine ist mittlerweile zwar mittags und abends sehr gut besucht, Reservierungen werden für die Terrasse und die Tische im Erdgeschoss aber nicht entgegen genommen. Wer den Clubraum im ersten Stock mieten möchte, der muss persönlich vorbeikommen. Einen Telefonanschluss gibt es nicht. Wer einen sicheren Platz haben möchte, dem empfiehlt die Wirtin auch schon mal, Decken mitzubringen: Genug Platz für ein Picknick mit Blick auf das Haus ist in jedem Fall.

Die Sonne ist inzwischen untergegangen. Der Himmel leuchtet violett. Die Teller der beiden Studenten sind leer. „Hat‘s ihnen geschmeckt?“, fragt Christa Mälzer. Die beiden nicken. „Fantastisch“, sagt der eine. „Danke“, sagt Mälzer, nimmt die Teller und geht in Richtung Eingang. Sie steht schon auf dem Treppenabsatz, da ruft der andere Student ihr zu: „Es ist toll hier. Schön, dass es solche Orte noch gibt.“ Christa Mälzer dreht sich um. „Schön, dass es ihnen gefällt“, sagt sie. „Ich liebe dieses Haus.“