BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER Jenseits von Hossa

Natalie Tenbergs Gastro- und Gesellschaftskritik: Das Odessa ist eine Bar für späte Stunden. Und für jene, die tatsächlich in Berlin-Mitte wohnen

Tausende von Menschen wuseln in Berlin-Mitte über die Straßen, nicht wenige halten einen Lonely-Planet-Reiseführer in der Hand. Die Gegend soll ein Sauftoureldorado für amerikanische Jugendliche sein. Die waren vor zwei Tagen in Amsterdam, und übermorgen reisen sie nach Prag. Heute aber sind sie in Berlin, das bedeutet Bier, Schnaps und anschließender Komazustand, hossa. In diesen Mix quetscht sich noch einiges Agenturvolk, das versucht, den Feierabend rumzukriegen und zu vergessen, dass es unterbezahlt wird.

Zwischen diesen Koordinaten findet man aber auch fast dörfliche Strukturen, vom Trubel übersehene Orte, an denen die zusammenkommen, die tatsächlich in Mitte wohnen – wie die kleine Odessa Bar an der Steinstraße. Zwei, drei steile Stufen erklommen, schon ist man drin, mittendrin. Das Odessa ist nämlich so klein, dass jedes Eintreten unweigerlich zum Auftreten wird. Nur fünf Tische und eine kurze Theke. Längst wirkt das Rot-Orange der Wände passé, die Friedhofskerzen auf den Tischen verbreiten eine morbide Stimmung. Den abgenutzten Tischen und den herumstehenden Getränkekisten würde ein funzeligeres Licht besser stehen. Nein, Liebe auf den ersten Blick, die schlägt dem Odessa nicht unbedingt entgegen. Obwohl das Odessa ab 19 Uhr geöffnet ist, wirkt es nicht gerade wie der ideale Ort für ein Feierabendbier. Vielmehr verlangt die Stimmung hier danach, dass man schon anderswo unterwegs war und gerade nach Hause stolpert. Ja, das Odessa als letzte Station vor dem eigenen Wohnzimmer beziehungsweise dem fremden Schlafzimmer, danach sieht es hier aus. Passend zu dieser Stimmung ist der Service eher zurückhaltend. Man wird nicht alle paar Minuten gefragt, ob man noch einen Wunsch hat. Das Getränkeangebot im Odessa ist eher dürftig, es gibt Bier, Wein, Spirituosen und ein paar alkoholfreie Getränke, das war’s. Kein Kaffee, kein Tee, keine Snacks.

Da bleibt auf der Karte mehr Platz für dumme Sprüche. So informiert der Besitzer seine Gäste darüber, dass das Odessa eine Bar sei, und wie der Name schon vermuten lassen würde, deshalb nur Bargeld angenommen werde. Das macht dann wieder deutlich, in welcher Stadt man ist: So viel klugscheißen kann nur Berlin. Trotz des kühlen Anfangs wird es dann im Odessa erstaunlich gemütlich. Je später der Abend, desto mehr Nachbarn kommen auf einen Plausch vorbei, die Friedhofskerzen brennen runter, die Musik dudelt sanft im Hintergrund. Die Masse Mensch ist draußen, und gerade deswegen ist es im Odessa so nett.

BAR ODESSA, Steinstr. 16, 10119 Berlin, S-Bahnhof Hackescher Markt, täglich ab 19 Uhr geöffnet, Cola 2 €, Bier ab 2,50 €, Spirituosen ab 4,50 €, Bier: Unertl Hefeweizen und Krušovice