Das neue schwarz-gelbe Bündnis

BÜRGERRECHTE In Berlin gehen Tausende gegen Überwachung und für Datenschutz auf die Straße. FDP und Antifa demonstrieren gemeinsam. Auch die Polizei bleibt friedlich

„Wenn Freiheit Toleranz meint, toleriere ich auch FDPler“

EIN DEMONSTRANT VON DER ANTIFA

AUS BERLIN MARTIN KAUL

Nein, eine individuelle Kennzeichnung haben die Berliner Polizisten noch immer nicht. Anders ist das bei vier Zivilbeamten, die am Wochenende in Berlin im Demo-Einsatz sind. Auf Schritt und Tritt werden sie begleitet von Demonstranten, die mit Schildern auf die Polizisten aufmerksam machen. Es ist ein bisschen Überwachungsstaat, nur eben einmal anders herum.

Mehrere tausend Menschen sind am Samstag wieder unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ in Berlin auf die Straße gegangen, um gegen staatliche Überwachung und für Datenschutz zu protestieren. Die Demonstration ist inzwischen zu so etwas wie der Jahreshauptversammlung einer neuen digitalen Bürgerrechtsbewegung geworden. 7.500 Teilnehmer zählten die Veranstalter in diesem Jahr, etwas weniger als im Vorjahr.

Polizeiliche Kennzeichnungspflicht, Netzneutralität und Datensammlungen wie das Arbeitnehmermeldesystem Elena, die Vorratsdatenspeicherung oder die geplante Gesundheitskarte sind ihre Themen. 127 Parteien, Verbände und Organisationen hatten gemeinsam zur Demonstration aufgerufen – unter ihnen zahlreiche linke Gruppen, der Chaos Computer Club, aber auch Parteien und Gewerkschaften, die Humanistische Union und die Freie Ärzteschaft beteiligten sich. Von der FDP bis zum schwarzen Block protestierten sie gemeinsam: für die Freiheit.

Überwacher überwachen

Die Mittel der Protestler: ein riesiger Datenkrake aus Pappmaschee, die den Datenhunger des Staates und vieler Privatunternehmen verdeutlichen sollte, dazu Hunderte von Schildern und Plakaten mit Parolen wie „Überwacht die Überwacher“ und „Privacy is not a crime“.

Es ist eine Bewegung mit Vielfalt, und diese hat ihre inhaltlichen Gründe. Denn Arbeitnehmer sind von zentralen Datenspeicherprojekten ebenso betroffen wie Krankenversicherte. So forderte etwa Ver.di-Chef Frank Bsirske am Samstag die Abschaffung des elektronischen Entgeltnachweises Elena, einem neuen Meldesystem zur zentralen Speicherung von Arbeitnehmerdaten. Und der Präsident der Freien Ärzteschaft, Martin Grauduszus, kritisierte die „Ignoranz der Regierungen und Staatswillkür“ – und forderte die Bundesregierung dazu auf, die geplante Einführung der elektronischen Gesundheitskarte zu stoppen. Die Chipkarte, auf der laut Kritik der Ärzteschaft sensible Krankheitsdaten gespeichert und so der ärztlichen Schweigepflicht entzogen würden, wird derzeit in Nordrhein-Westfalen erprobt. Derlei heterogene Datenschutzthemen führen auf den Straßen zu Protestkoalitionen, die auf den ersten Blick undenkbar scheinen.

„Es ist gerade die Breite dieses Protestbündnisses, die dazu führt, dass keine der großen Parteien im Bundestag das Thema mehr ignorieren kann“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele. Und dennoch: Überraschend ist schon, mit welch liberaler Grundhaltung sich autonome Revolutionäre und Wirtschaftsliberale neu begegnen.

Ein Mann, ganz in Schwarz, mit schwarz-roter Antifa-Fahne sagt: „Wenn Freiheit Toleranz meint, toleriere ich auch, dass hier FDPler mitlaufen.“ Und ein paar dutzend Meter weiter zitiert der jungliberale Jurastudent Nils Hempel heute Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“, sagt er. Es ist ein schwarz-gelbes Bündnis der anderen Art.

Angesichts dieser Freiheitsfreude bleibt auch die Polizei in diesem Jahr durchweg friedlich. Grund hatte sie: Die Berliner Beamten waren nach der gleichlautenden Demonstration im vergangenen Jahr massiv in die Kritik geraten, nachdem Polizisten einen friedlichen Demonstranten massiv attackiert und verletzt hatten. Demonstranten, die gerade gegen Videoüberwachung protestierten, hatten die Szene gefilmt – und überführten so die Polizisten.

Die individuelle Kennzeichnung, die Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch daraufhin in Aussicht gestellt hatte, gibt es zwar noch immer nicht, doch immerhin: Am Samstag verzichtete die Polizei weitgehend auf Videoüberwachungen und hielt sich auch sonst erstaunlich zurück. Über weite Strecken der Demonstration waren nur wenige Polizeibeamte in Sichtweite. Die Folge: keine Randale, keine Bambule, keine Polizeigewalt. Freiheit also, auf der ganzen Linie.

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