TRADITIONEN UND BRÄUCHE WANDERN VON WEST NACH OST UND VON SÜD NACH NORD, ABER ZUR SCHAU GESTELLTES GRUPPENEMPFINDEN BLEIBT IM KERN: GEWALTTÄTIG
: Als Mensch verkleidet

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Als ich ein Kind war, feierten wir im Februar Fasching. Wir feierten im Kindergarten und in der Schule und nach der Schule war es damit vorbei. Eigentlich war es in den letzten Jahren in der Schule auch schon damit vorbei, weil sich kein Zehntklässler mehr verkleiden und die Polonaise tanzen wollte. Ich habe keine besonders schöne Erinnerung an den Fasching in der Schule, ich mag keine gesellschaftlichen Feiern, ich ertrage es nicht, wenn größere Menschengruppen gemeinschaftlich froh und ausgelassen sind, ich misstraue ihnen, ich halte solche Feste für im Kern gewalttätig. Ich halte auch große Hochzeitsfeiern, Junggesellenabschiede, Oktober- und Schützenfeste für gewalttätig.

Ein Mensch empfindet nicht wie alle anderen, ein Mensch empfindet immer für sich allein, deshalb ist ein zur Schau gestelltes Gruppenempfinden eine dumpfe Verstellung, eine gemeinschaftliche Maskierung, und da wären wir wieder beim Karneval, so heißt der Fasching in meiner jetzigen Welt und er bedeutet viel mehr als der Fasching. Er bedeutet Ritual.

Bisher ist man im Norden davon größtenteils verschont geblieben, insbesondere in Hamburg schert sich kaum einer um den Karneval, hier und da wird ein bisschen was aufgefahren, vor allem in den kleineren Städten. Rosenmontagsumzug in Marne, mit immerhin schon fünfzigjähriger Tradition, Schoduvel in Braunschweig, Karnevalsumzug in Hannover, Faslam in Winsen (Luhe), „Kreisel hier, und Kreisel da, Papenburg ganz wunderbar“ (was immer das auch heißen soll), und Ossensamstag in Osnabrück. In Hamburg gibt es das „LiLaBe“ und das heißt einfach nur „wild abfeiern“: „Immer mehr Besucher kommen von weit her, um hier kräftig abzufeiern“, so steht es auf der Website des LiLaBe. „Besonders zahlreich kommen die Rheinländer, wenn das LiLaBe nach Aschermittwoch stattfindet, was hier in Hamburg keine Rolle spielt.“ Hier und dort ein kleines Umzügchen, aber morgens sitzen die Leute doch so mürrisch wie jeden All-Tag im Jahr in der Bahn und kein „Helau“ oder was und kein Konfetti auf der Perücke.

Ich habe mir die Bilder angesehen, die Umzüge im Fernsehen, ich habe die Kostüme gesehen und die Schenkel von den Funkenmariechen, die sie hoch in die Luft schmeißen, dass die Schlüpfer blitzen, und das auch erst seit Adolf Hitler, wie man recherchieren kann, denn das Funkenmariechen war bis 1936 ein Mann. Ein deutscher Mann tanzt aber nicht im Rock herum, wenn er sich nicht der Homosexualität oder des Transvestitentums verdächtig machen will, deshalb hat der Nationalsozialismus die schöne Tradition der sauberen deutschen Funkenmariechenfrau eingeführt.

Ich habe mich gefragt, ob der Karneval eine Tradition ist, die den Leuten im Norden immer gefehlt hat. Ein bisschen Spaß, ein bisschen Kapelle und marschieren, ein paar Uniformen und ein paar Vorschriften, denn der Karneval hat eine Menge Vorschriften, da kann nicht einfach wild losgefeiert werden. Ich will da aber nicht so tief einsteigen, in die Wissenschaft des Karnevalismus. Mir geht es mehr allgemein um den Brauch des gemeinsam zelebrierten Frohsinns, der gemeinschaftlichen Ausgelassenheit. Das arbeitet sich in den Norden vor, schon werden regelmäßig Oktoberfeste gefeiert, da betrinken sich nicht nur die Hannoveraner mit Maßkrügen, da werden nicht nur Weißwürste und Brezen gegessen, da wählen sie auch noch die Miss Dirndl. Das ist doch schön! Die Traditionen und die Bräuche wandern durch das ganze Land, sie wandern von Süd nach Nord und von West nach Ost. Schließlich sind wir hier, von Schweden aus gesehen, auch nur Süden. Es kommt auf den Standpunkt an.

Mein Standpunkt allerdings ist außerhalb. Mein Standpunkt war schon immer außerhalb. Ich tanze am Aschermittwoch, ich feiere müde die Nacht, ich verkleide mich täglich als Mensch und taumle durch den Alltag.Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen