Frauen, die zu Folterern werden

LITERATUR Nadifa Mohamed gehört zu den 20 „Best of Young British Novelists“, die jährlich von der Zeitschrift Granta gekürt werden. Ihr zweiter Roman „Der Garten der verlorenen Seelen“ erzählt von drei Frauen im Somalia der achtziger Jahre

Es gab ein Frauenkorps beim Militär, und es gab Frauen bei Polizei und Sicherheitsdiensten

VON KATHARINA GRANZIN

Nadifa Mohamed sitzt in einem Berliner Hotel im Frühstücksraum. Es ist neun Uhr morgens. Gefrühstückt hat sie schon längst. Sie ist am Ende einer Lesereise durch mehrere Länder zu ihrem Roman „Der Garten der verlorenen Seelen“, und wenn sie heute noch drei Interviews gegeben haben wird, fliegt sie zurück nach Hause. Für Menschen wie diese junge Britin hat Taiye Selasi in einem Essay den Begriff „Afropolitans“ geprägt. Damit ist jene derzeit noch junge Generation urbaner, gebildeter Menschen gemeint, deren Herkunft in Afrika liegt, die jedoch gleichzeitig in den Metropolen der Welt zu Hause sind.

Nadifa Mohameds Zuhause ist London, die europäische Metropole schlechthin. 1986 kam sie als kleines Mädchen mit ihrer Familie nach England. In Somalia, ihrem Heimatland, begann der Bürgerkrieg Kreise zu ziehen, und ihr Vater, der als Seemann herumgekommen war und vorher schon in England gelebt hatte, hatte Vorkehrungen getroffen, seine Familie aus dem Krisengebiet zu bringen. (Über das Leben ihres Vaters schrieb sie ihren ersten Roman „Black Mamba Boy“, der im nächsten Jahr in deutscher Übersetzung erscheinen wird.) Seitdem lebt Nadifa Mohameds Familie in England.

Im Nordwesten Somalias, in ihrer Heimatstadt Hargeisa, ist mittlerweile Frieden eingekehrt. Somaliland, wie dieser Teil des Landes nunmehr genannt wird, fungiert – ohne international als Staat anerkannt zu sein – mit Hargeisa als Hauptstadt weitgehend autonom vom Rest Somalias, während anderswo immer noch gekämpft wird. Seit 2008 ist Nadifa Mohamed mehrfach in der alten Heimat gewesen, „etwa alle zwei Jahre fahre ich dorthin“, erklärt sie. Für ihren Roman war diese Recherche grundlegend, denn sein Thema ist gewissermaßen historisch, und die Autorin ist, auch wenn sie nicht außer Landes gezogen wäre, ohnehin zu jung, um die damaligen Ereignisse bewusst miterlebt zu haben.

„Der Garten der verlorenen Seelen“ spielt in den achtziger Jahren in Hargeisa. Am Schicksal dreier Frauen aus drei Generationen erzählt er von den Verheerungen, die der Ausbruch des Bürgerkriegs in der Stadt zur Folge hat. Eine der Frauen allerdings ist noch gar keine, sondern ein etwa zehn Jahre altes Mädchen. Die kleine Deqo, die elternlos in einem Flüchtlingslager aufwächst, soll zusammen mit anderen Mädchen auf einer großen öffentlichen Feier zu Ehren des Diktators tanzen. Doch sie patzt und wird deshalb von weiblichen Mitgliedern der Ordnungsmiliz unbarmherzig drangsaliert. Kawsar, eine ältere, gut situierte Witwe, die die Szene beobachtet hat, tritt für das Mädchen ein, wird aber selbst verhaftet und beim Verhör von einer Offizierin so zusammengeschlagen, dass sie fortan ans Bett gefesselt und auf die Hilfe eines Dienstmädchens angewiesen ist. Die Offizierin wiederum ist einerseits von brennendem Ehrgeiz getrieben, leidet aber gleichzeitig unter den ungebrochen gültigen sexistischen Machtverhältnissen, die im Militär herrschen.

Die Soldatin sei die letzte der Hauptpersonen gewesen, die sie entwickelt habe, erklärt die Autorin. „Zuerst hatte ich Kawsar, dann Deqo.“ Die Person der Kawsar, die die Welt nur noch von ihrem Bett aus oder in Erinnerungen wahrnehmen kann, ist so etwas wie das Zentrum des Romans – gerade ihre räumliche Unbeweglichkeit macht sie zu einem Symbol der Stabilität und Ortstreue; auch der titelgebende Garten gehört ihr. Kawsar setze sich zusammen aus mehreren Personen, die sie kenne oder gekannt habe, sagt Nadifa Mohamed, darunter auch ihre eigene Großmutter. „Meine Großmutter konnte als Folge eines Autounfalls nicht mehr laufen. Und als mit dem Bürgerkrieg die Bombardierungen begannen, wurde sie allein zurückgelassen, wie Kawsar im Roman.“ Oh mein Gott, wie entsetzlich! Sie nickt und redet schon weiter: „Aber Kawsar unterscheidet sich in vieler Hinsicht von der Art, wie ich mir meine Großmutter vorstelle. Sie ist defätistischer, verzweifelt mehr am Leben.“

Das ist eine erstaunliche Einschätzung der Figur, die sie selbst geschaffen hat. Denn Kawsar, der vom Schicksal wirklich übel mitgespielt wurde, zeichnet sich, trotz aller Schicksalsschläge, durch eine bewundernswerte Haltung und Würde aus.

Würden Sie es eigentlich unangebracht finden, als feministische Autorin bezeichnet zu werden? „Nein, absolut nicht!“, kommt die Antwort sehr entschieden. „Ich bin immer wieder schockiert davon, wie Frauen überall auf der Erde behandelt werden. Heutzutage nehmen Frauen zwar viel stärker öffentliche Rollen ein als früher. Aber dagegen ist ein riesiger, gewalttätiger Backlash im Gange. Ich habe sehr viel zu dem Thema gelesen, als ich an meinem Buch gearbeitet habe. Ich wollte herausfinden, warum es so viel Angst vor dem weiblichen Körper gibt, warum Frauen sich in ihrem eigenen Körper so unwohl fühlen. Frauen werden überall auf dieser Welt immer noch missbraucht, und sie müssen mehr Macht für sich beanspruchen. Ihre eigene Geschichte zu erzählen, kann ein Weg dorthin sein.“

Sie hat sich warm gesprochen. Dass dieses Thema ihr sehr am Herzen liegt, ist deutlich zu merken. In Somalia, erklärt sie, habe es damals „unter der sozialistischen Regierung, nein, unter der sozialistischen Diktatur“, die dem Bürgerkrieg vorausging, offizielle Bestrebungen gegeben, Frauen und Männer gleichzustellen. „Man behauptete, Frauen könnten nun alles tun, was sie vorher nicht konnten. Das war aber in der Realität nicht der Fall. Es stimmt, dass manche gesellschaftliche Bereiche für Frauen geöffnet wurden; aber natürlich nur so weit, wie es der männlich dominierten Regierung passte.“

Ist Filsan, die Offizierin, also sozusagen prototypisch für eine damals moderne Somalierin? Gab es viele Soldatinnen? Die Antwort kommt mit leichter Verzögerung: „Viele nicht, aber es gab sie. Es gab ein Frauenkorps beim Militär, und es gab Frauen bei Polizei und Sicherheitsdiensten.“ Filsan sei insofern besonders, als sie über gute Kontakte verfüge und sehr ehrgeizig sei. „Sie ist eine Person, die gefangen ist zwischen ihrem Idealismus – viele wollten ja wirklich das Land besser machen – und der Unfähigkeit, die Realität ihrer persönlichen Lage zu erkennen. Ich war sehr beeindruckt von Bildern aus Abu Ghraib, auf denen man sah, wie Frauen Gefangene misshandeln. Es gibt sie, diese Frauen, die selbst zu Folterern werden, und man liest heute mehr und mehr darüber. Es ist wichtig, auch ihre Geschichte zu erzählen.“

Im Roman wird nicht nur die vorher skrupellose Soldatin geläutert, sondern auch die bewegungsunfähige Kawsar wird von den anderen Frauen aus ihrem Haus gerettet und in Sicherheit gebracht. Eine glückliche Wendung, wie sie Nadifa Mohameds Großmutter in der Realität nicht widerfuhr, die aber ihre Enkelin nun gewissermaßen in der Literatur nachgeholt hat. Diese doch recht märchenhafte Entwicklung am Ende einer Geschichte voller Tragik und Gewalt mag den üblichen inhaltlichen Erwartungen an einen literarischen Text höherer Güte zuwiderlaufen; aber wer sagt eigentlich, dass der Realismus in der Literatur sich nicht auch mit der einen oder anderen glücklichen Wendung verträgt?

Möglicherweise wird die Geschichte von Deqo, Filsan, Kawsar und den anderen Frauen am Rande des Bürgerkriegs in wenigen Jahren auch auf der Leinwand zu sehen sein. Nadifa Mohamed, die neben dem Schreiben auch immer noch als Producerin von Fernsehproduktionen arbeitet, hat gute Kontakte in die Londoner Filmszene und trägt sich mit Plänen, „Der Garten der verlorenen Seelen“ selbst zu verfilmen. Vor Ort in Somaliland, „mit so vielen einheimischen Darstellern und Crewmitgliedern wie möglich. Für die Leute dort wäre es großartig, eine Version von sich und ihrem Land auf der Leinwand zu sehen, mit der sie sich identifizieren können. Wir hatten vorher nur solche Kriegsfilme wie ,Black Hawk Down‘. Das ist aber nicht das Somalia, wie die Somalier es sehen. Und nicht, wie ich es sehe.“

Ob sie selbst dann das Drehbuch schreibe? Oder würde sie vielleicht sogar Regie führen? „Ich würde es schreiben und produzieren, für die Regie wüsste ich schon jemand anders. Aber ich habe natürlich ganz bestimmte Bilder im Kopf, die ich haben will, und wäre auf allen Ebenen sehr in den Film involviert.“

Pläne für einen dritten Roman gibt es im übrigen auch schon. Mit diesem Projekt müsse sie nun ernsthaft anfangen, erklärt sie, wenn sie jetzt zurück nach London komme. Und was denn vorrangig auf ihrem Plan stehe? Habe sie eher den Film oder eher den dritten Roman im Kopf? „In meinem Kopf ist immer alles gleichzeitig“, sagt sie, lächelt zuerst ein wenig und lacht dann endlich richtig. „So arbeite ich.“

■ Nadifa Mohamed: „Der Garten der verlorenen Seelen“. Aus dem Englischen von Susann Urban. C.H. Beck, München 2014. 269 Seiten, 19,95 Euro