Für die Minderheiten nichts dabei

KURDEN Zwei Drittel aller kurdischen Stimmberechtigten folgten dem Aufruf zum Boykott des Referendums

„Wir wollen keine Reparaturen an der jetzigen, sondern eine völlig neue Verfassung, die die Rechte der Minderheiten berücksichtigt“

AHMET TULGAR, BOYKOTTORGANISATOR

ISTANBUL taz | Während am Sonntag rund 78 Prozent aller Wahlberechtigten über die Verfassungsreform abstimmten, blieb der größte Teil der kurdischstämmigen Wähler zu Hause. „Rund zwei Drittel aller Kurden in den südöstlichen Provinzen haben das Referendum boykottiert. Das ist ein großer Erfolg für uns“, sagte Ahmet Tulgar der taz am Tag danach. Tulgar, Chefredakteur der linken Zeitung Birgün, war einer der Organisatoren des Boykotts. Ebenso wie die prokurdische Partei BDP wirft er der Regierung Ignoranz „gegenüber den kurdischen Anliegen“ vor.

„Während der Diskussionen im Parlament hat die BDP viele Vorschläge gemacht, doch Ministerpräsident Erdogan ist auf nichts eingegangen. Für uns gab es in dieser Verfassungsreform kein Angebot, warum hätten wir da abstimmen sollen“, beschreibt Tulgar die Motive vieler Kurden.

Allerdings war es wohl nicht nur das fehlende Angebot, welches die BDP zum Boykott veranlasst hat. Sie kämpft, ebenso wie schon ihre verbotene Vorgängerpartei DTP, mit der regierenden AKP um die Vorherrschaft im kurdischen Südosten. Für die BDP ist es wichtig, die Mehrheit in den kurdischen Provinzen zu bekommen, denn nur das legitimiert sie, als Vertreter der türkischen Kurden aufzutreten.

Osman Baydemir, der Bürgermeister von Diyarbakir, hat deshalb vor der Abstimmung sogar damit gedroht, er würde zurücktreten, wenn in der größten Stadt im Südosten mehr als 50 Prozent der Bürger an der Abstimmung über die Verfassung teilnehmen. Baydemir kann nun getrost weiterarbeiten; weniger als 30 Prozent stimmten in Diyarbakir ab.

„Nach diesem Ergebnis muss die Regierung auf uns zukommen“, hofft Ahmet Tulgar. „Wir wollen keine Reparaturen an der jetzigen Verfassung, sondern eine völlig neue Verfassung, die die Rechte der ethnischen und religiösen Minderheiten im Lande berücksichtigt“.

Für die meisten Kurden ist die Verfassungsfrage aber weit weniger wichtig, als dass endlich der Krieg zwischen der PKK und dem Staat beendet wird. Vor dem Referendum hatte die PKK einen befristeten Waffenstillstand bis zum 20. September verkündet. Angeblich hat die Regierung deshalb über den Inlandsgeheimdienst auch bei dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan sondieren lassen. „Diese indirekten Gespräche mit der PKK sollte die Regierung jetzt fortführen, damit das Töten endlich aufhört“, sagt Tulgar. Dann könnte Tayyip Erdogan vielleicht auch unter den Kurden wieder mehr Zuspruch erhalten.