Der lange Atem der Photographie

BILDGESCHICHTEN Das Braunschweiger Museum für Photographie zeigt die Fotoreportagen von vier preisgekrönten Nachwuchskünstlern. Denen gelingt es bisweilen, die Wirklichkeit ein Stück zu erweitern

Andrea Diefenbach beschäftigt sich mit sozialen Verwerfungen

Die Wüstenrot-Stiftung fördert neben baukulturellen Aufgaben seit 1994 im Zweijahresrhythmus auch Absolventen der Fotografie, die sich dem langen Atem komplexer Bildgeschichten verpflichtet fühlen. Das Museum für Photographie in Braunschweig stellt nun die vier Preisträger von 2007/08 aus, ergänzt um aktuelle Arbeiten der Fotografen in einer temporären Galerie.

Thematisch variieren die Arbeiten so stark wie die Biographien, aus denen sie häufig schöpfen. Was sie verbindet, sind ruhige, nachdenkliche Bildsprachen.

Da ist Margret Hoppe, die 1981 in der DDR geboren und als Kind schon früh in die Fördersysteme des Sports und des Systems geraten ist. Ihr Interesse gilt den untergegangenen Kulturzeugnissen des Sozialismus. Das Preisgeld der Wüstenrot-Stiftung nutzte sie zur Dokumentation der Unterdruckkammer des Sportleistungszentrums Kienbaum im Brandenburgischen. Ein irritierend biederes und krudes Interieur setzt sie in Kontrast zu den siegreichen Athleten, die sie in schwarzweißen Siebdruckreproduktionen der Presse entnommen hat.

Andrea Diefenbach, 1974 in Wiesbaden geboren, beschäftigt sich mit sozialen Verwerfungen in den ehemaligen sozialistischen Ländern. Sie verfolgte Arbeitsmigranten aus Moldawien in ihren illegalen Beschäftigungssituationen in Italien – und ihre in der Heimat zurückgelassenen Kinder, die häufig ganz auf sich allein gestellt sind. Für das Verlassensein findet sie Metaphern wie die Pakete italienischer Panettone in der moldawischen Küche oder das Kinderfoto im Portemonnaie der Mutter in Italien.

Düster auch die Welt, die Aymeric Fouquez zeigt. Ehemalige Tagebaukrater in der Lausitz hat er in fein gezeichneten, leicht überbelichteten farbigen Panoramen festgehalten. In einer langfristig angelegten Serie dokumentiert der 1974 in Frankreich geborene und in Köln lebende Fouquez Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkriegs in Nordfrankreich. Agrarbetriebe und Supermärkte sind ihnen in den letzten Jahrzehnten bisweilen äußerst pietätlos nahe gerückt.

Sehr vital und mit dem Humor eines auch im Ausweglosen nicht Verzweifelnden fängt Kirill Golovchenko aus Mainz Alltagsszenen seiner ukrainischen Heimat ein. Westliche Symbole sollen für den Fortschritt des Landes stehen. Sie sind aber nur Abziehbilder auf einer nach wie vor in sozialistischen Strukturen gefangenen Gesellschaft. Seine aktuelle Fotoserie widmet der 1974 in Odessa Geborene einem riesigen Fitnesscenter unter freiem Himmel, in schönstem sozialistischen Kolorit. Archaische, unendlich schwere Geräte erscheinen wie aus der Erde gewachsen – und wie ein stärkerer Gegner, der bezwungen werden will. Hier ist die Fotografie mehr als nur Abbild: Sie wird Wirklichkeit, erweitert um eine liebevolle, nicht moralinsaure Interpretation. BETTINA MARIA BROSOWSKY

bis 26. September, Helmstedter Straße 1 und Steinweg 30