JÜRGEN GOTTSCHLICH ZUR VERURTEILUNG DER TÜRKEI IM MORDFALL HRANT DINK
: Selbstverschuldete Blamage

Die Spuren des Mordes weisen tief in den Staat. Die Drahtzieher müssen auf die Anklagebank

Die Türkei hat gestern vom europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eine internationale Blamage erlitten. Das Verdikt der Richter, die Regierung in Ankara und ihre Sicherheitskräfte trügen am Mord an dem armenischen Journalisten und Menschenrechtler Hrant Dink eine Mitschuld, hätte man in Ankara gern vermieden. Lieber hätte die Regierung einen Vergleich mit der Familie des Ermordeten geschlossen: dafür waren Präsident Abdullah Gül und Außenminister Ahmet Davutoglu sogar bereit, von sich aus eine Teilschuld des Staates einzugestehen, weil die Polizei trotz Kenntnis des Mordplanes nichts zum Schutz von Hrant Dink unternommen hat.

Doch die Familie wollte sich auf keinen Deal hinter verschlossenen Türen einlassen. Alle Welt sollte erfahren, das hohe und höchste Stellen den Mord geschehen ließen. Dass die Familie auf der öffentlichen Verurteilung des türkischen Staates bestand, ist kein Akt der Rache. Sie wollen vielmehr, dass im Verfahren gegen die Mörder von Hrant Dink, das sich nun seit Jahren hinschleppt, endlich nicht mehr nur die jugendlichen Attentäter, sondern auch die Drahtzieher des Mordes auf der Anklagebank wiederfinden, die sie in den Reihen des „tiefen Staates“ vermuten.

Denn die Hintermänner werden immer noch gedeckt. Obwohl ihre Verantwortung evident ist, wurden Polizeichefs bislang nicht angeklagt. Mit dem internationalen Druck, der sich durch das Urteil verstärkt hat, wird sich das nun hoffentlich ändern. Für die Freunde von Hrant Dink, die unentwegt zu jedem Prozesstag erscheinen und auf Plakaten „Gerechtigkeit“ fordern, ist das Straßburger Urteil schon jetzt ein großer Sieg. Und wie immer der Prozess gegen die Mörder von Hrant Dink letztlich ausgeht, eines steht bereits fest: Politische Morde sind in der Türkei riskanter geworden, für Anstifter und Attentäter. Denn immer weniger Menschen sind bereit zu schweigen, wenn die Spuren der Morde verwischt werden sollen.

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