Rhythmisch grasen die Schafe

Am Rande der immergleichen Videos aus der MTV-Rotation gibt es auch Regisseure, die sich mit der Kunst beschäftigen, eigenwillige Bilder für ebenso eigenwillige Musik zu kreieren. Jetzt werden diese Autorenclips bei „Antenna UK“ gezeigt

Bei den Chemical Brothers drehen Fließbandroboter durch

von DIETMAR KAMMERER

Animation mit Stop-Motion ist eine Technik, bei der man normalerweise an Knetfiguren, Drahtmännchen und putzige Kinderfilme denkt. 1986 hat Stephen Johnson das Trickfilmverfahren eingesetzt, um ein ganz anderes Genre gründlich zu revolutionieren: Sein Musikvideo zu Peter Gabriels „Sledgehammer“ setzte Maßstäbe, die noch heute schwer zu übertreffen sind. Obwohl in der Folgezeit Videoclips mit immer mehr visuellen Gimmicks überfrachtet wurden, wagten sich nur wenige Regisseure an die geduldige Handarbeit, um eine Bewegung Bild für Bild entstehen zu lassen – vor allem, wenn die Effekte aus dem Rechner um so vieles einfacher zu haben sind.

Dass Musikvideos nicht unbedingt schnell produziert, schnell geschnitten und schnell wieder vergessen sein müssen, beweisen seit Jahren die Kuratoren von „Antenna“. Bei der alle zwei Monate in London stattfindenden Filmveranstaltung treffen sich die international führenden Kreativen der Branche, um experimentelle, von der MTV-Rotation weitgehend übersehene Musikvideos auf der großen Leinwand anzuschauen und zu diskutieren. Daraus entstand, auf Initiative des British Council, das Programm „Antenna UK“, eine Zusammenstellung von 16 Musikvideos britischer Regisseure, die weltweit auf Tour gehen und heute Abend im Babylon Mitte Station machen.

So unterschiedlich die einzelnen Filme ausgefallen sein mögen, eins ist beinahe allen gemeinsam: Zwanzig Jahre nach Johnsons tanzenden Plastilin-Hühnchen scheint eine neue Generation von Musikern und eben auch Regisseuren den Charme des Selbstgebastelten wieder entdeckt zu haben. Das Elektro-Duo Psapp etwa verarbeitet selbstaufgenommene Samples von allem, was ihnen vors Mikro läuft: vornehmlich die Geräuschwelt der Dinge, von zerbrechenden Eiswürfeln bis zum mechanischen Aschenbecher.

Da ist es nur konsequent, wenn in dem Video zu ihrem Track „Hi“ (Regie: Trunk) all das, was in einem menschenleeren Musikstudio so herumliegen kann, ein ausgefallenes mechanisches Ballett aufführt, mit zahlreichen Verbeugungen in Richtung Fernand Léger und Busby Berkeley. Elektrogerät entstöpselt sich, Kondensatorenmännchen türmen sich zu Schriftzeichen. Die Sprache der Dinge ist ein Tanz. Der Clip liefert Antwort auf die alte Kinderfrage: Was treiben Gegenstände, wenn sie unbeobachtet sind?

Die Musikvideos haben den Charme des Selbstgebastelten wieder entdeckt

Auch in den meisten anderen Clips eröffnet die Manipulation der Bilder ein endloses Feld des Spielerischen. Chris Cairns nutzt die Zeitrafferfotografie in seinem Video „We’re here“, entstanden für die Londoner Indie-Band The Guillemots, um die Landschaft selbst zum Grooven zu bringen. Im Takt der Beats schlagen die Wellen gegen den Strand, ziehen Wolken ruckartig vor- und rückwärts über den Horizont, grasen Schafherden rhythmisch auf den Wiesen. „The world is our dancefloor now“ heißt es im Song – der Regisseur hat die Zeile schlicht wörtlich genommen und ins Bild gesetzt. Drei Wochen Camping in Schottland, dazu die ständige Sorge, dass die Ausrüstung das dauerfeuchte Klima nicht unbeschadet überstehen könnte, waren der Einsatz, um eine Art James-Benning-Video für die Dancefloor-Generation zu schaffen – als Komposition aus Farbe, Licht und Bewegung. Innerhalb des Programms ist dieser Clip der beste Beweis, dass manche Musikvideos nicht im Fernsehen, sondern erst auf der Kinoleinwand ihre ganze Kraft entfalten.

Alles andere als verspielt erscheint die Dingwelt allerdings im Clip zu „Believe“ von den Chemical Brothers. Hier wird das Mechanische bedrohlich, wenn ein Arbeiter sich von durchgedrehten Fließbandrobotern gejagt glaubt, die ihn aus der Fabrik über die Straßen Londons bis ins heimische Badezimmer verfolgen. Die Aufforderung „I want you to believe in something“ mündet geradewegs in Paranoia. Massiver Computereinsatz statt geduldiger Handarbeit setzt hier zwar die Dinge ins Bewegung. Dass der Clip dennoch nicht aus dem Rahmen des übrigen Programms fällt, liegt an seinem ungeschliffenen, quasi-dokumentarischen Handkamera-Look. Das Musikvideo hat dem Regie-Duo dom&nic im vergangenen Jahr Dutzende von Auszeichnungen eingebracht, unter anderem wurde es als „Bestes Video“ beim MTV Europe Award prämiiert.

Für Massive Attacks „False Flags“ hat Regisseur Paul Gore schließlich das Gegenteil von Stop-Motion in Szene gesetzt: eine echte Bewegung wird bis zur Erstarrung verlangsamt, nahezu eingefroren. Das Video zelebriert die Vorbereitung, das Anzünden und den Wurf eines Molotowcocktails in extremer Zeitlupe und Nahaufnahme, die Reflexion der Flamme in der Pupille inklusive. Der Radical Chic des gewaltsamen Aktes wird ganz und gar ausgekostet. Danach kann nur noch ein Video folgen, in dem Menschen gezwungen wurden, für Jeremy Warmsleys „Dirty Blue Jeans“ sehr, sehr lange Zeit still zu stehen. Abgeschlossen wird das Programm mit einer Werkschau der Arbeiten von Daniel Levi, bekannt vor allem für sein Video „Freak“ für die Gruppe LFO.

„Antenna UK“, heute (und 22. 9.), um 22 Uhr, Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Platz; anschließend DJs Papa T und Aziz (Dangerous Drums). Nächste Termine: Mitte Dezember