die taz vor zehn jahren über „Kinderschänder“-Debatten zwischen wohlfeiler Moral und Billigzynismus
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Spektakuläre Gewaltphänomene, wie sie im Medienereignisrhythmus erscheinen und wieder verschwinden, offenbaren immer wieder des Gedankens Blässe. Dabei besteht die Aufgabe darin, die Sache „kühl“ zu betrachten und eine sinnvolle Haltung zu gewinnen. Stattdessen wird man mit Meinungen bedient, die die Sache vernebeln. Die Kommentatoren teilen sich in notorisch „Betroffene“ und „Coole“. Wir können also wählen zwischen triefendem Moralismus und trendy Billigzynismus.

In dieser Debatte geschieht das nämlich. Micha Hilgers lamentiert in der taz in peinlicher (Selbst-)Geißelungsmanier über alles, alles Böse, was mit Kindersex zusammenhängt, Katharina Rutschky übt sich in umgekehrtem Gesinnungsterror.

Qua Gesetz sind Kinder besonders geschützt, weil sie am ehesten als persönlichkeitsloses Material betrachtet und behandelt werden. Als Hemmschwelle gilt ein naturhafter Schutzreflex; wo der fehlt, setzt die Moralisierung ein und bezeichnet Menschen als Monster.

Dieser Abspaltung entspricht auf der Seite des „Täterhumanismus“ eine Abspaltung von Empathie, von Furcht und Mitleid. (Porno-)Täter haben die „Fähigkeit“, ihr gewalttätiges Handeln zu rationalisieren. Müssen deshalb diejenigen, die vor Krokodilstränen, paranoiden Überreaktionen und Lynchimpulsen warnen, in mechanisches Hohngelächter ob der Identifikation mit den Geschundenen und dem Haß auf die Folterer verfallen?

Gesucht ist eine Haltung, die in Gewaltfragen rational bleibt, ohne auf die schlichte, explizite Unterscheidung zwischen Leiden und gutem Leben zu verzichten. Da jeder weiß, daß ihn oft nur die internalisierten zivilisierten Grenzen davor schützen, gewalttätig zu werden, so muß er auch für die Durchsetzung solcher Grenzen eintreten. Das heißt unter anderem: für konsequente Strafverfolgung und -anwendung bei Gewalttaten, vor allem organisierten dieser Art.

Dorothea Dieckmann, taz vom 31. 8. 1996