„Nicht nur die Vorzeigetürken“

Vor 20 Jahren gründete sich das „Bündnis türkischer Einwanderer“ in Hamburg. Mit seinen Bildungsangeboten war es bundesweit Vorreiter. In den 90ern stieß die Nähe zur Türkei auf Unverständnis. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden Nihat Ercan

von Friederike Gräff

taz: „Nicht-Deutsche sind hier Menschen zweiter Klasse“ – das hat der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Hamburg 1992 gesagt. Gilt das noch?

Nihat Ercan, Vorsitzender der TGH: Teilweise. Einiges ist besser geworden. Aber im Bereich politischer Partizipation sind die Nicht-Deutschen immer noch zweite, wenn nicht dritte Klasse.

Und was ist heute besser?

Die Politiker, sowie Teile der Bevölkerung haben akzeptiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Deshalb gibt es jetzt in Hamburg auch den Integrationsbeirat und gerade den Integrationsgipfel. Aber im Erziehungs- und Bildungsbereich gibt es noch immer Probleme.

Die Bildungsarbeit ist einer der Schwerpunkte der TGH. Springen Sie ein, weil vom Staat zu wenig getan wird?

Von dort kommt sowieso zu wenig. Bei einer Erhebung in Hamburg hat man festgestellt, dass 44 Prozent der sechsjährigen türkischen Kinder, die hier geboren und aufgewachsen sind, keine ausreichenden Deutsch-Kenntnisse besitzen. Und knapp 20 Prozent verlassen ohne Abschluss die Schule.

Angesichts der schlechten Sprachkenntnisse der türkisch-stämmigen Kinder wird verstärkt mehr Engagement der Eltern gefordert. Zum Beispiel, dass sie ihre Kinder in den Kindergarten schicken.

Das ist klar. Wir versuchen auch, die Eltern zu mobilisieren. Wir haben fast 4.000 Briefe verschickt, in denen wir sie auffordern, ihre Kinder in den Kindergarten zu bringen. Aber: Es gab jahrelang nicht genügend Plätze und die wenigen waren teuer.

Vor allem die Jungen scheinen Probleme mit der Integration zu haben.

Ja, leider. Die Mädchen sind deutlich erfolgreicher in der Schule.

Wo vor allem Ratlosigkeit herrscht.

In vielen Schulen gibt es kaum männliche Kollegen. Wenn ich als Mann in eine Klasse komme, sagen die Schüler, egal ob deutsch oder türkisch: „Endlich ein Lehrer“. Sicher müssen die Jungs stärker diszipliniert werden – aber wie, das ist schwer. Sie missbrauchen – wie auch die deutschen Jungs – ein wenig die Freiheit, die sie haben.

Gibt es Frauen bei Ihnen im Vorstand?

Zur Zeit sind es zwei: Eine Erzieherin und eine Lehrerin.

Und Sie haben einen deutschen Geschäftsführer. Hat das auch symbolische Bedeutung?

Nein. Er hat uns seit 16 Jahren viel geholfen. Er macht sehr gute Arbeit – und das nicht nur symbolisch.

Ziel der TGH ist laut Satzung die „Integration der Einwanderer in die deutsche Gesellschaft unter Wahrung ihrer kulturellen Vielfalt“. Wie weit sind Sie damit in 20 Jahren gekommen?

Es hängt davon ab, wie man Integration definiert. Wenn es reicht, dass die Leute hier leben und Steuern zahlen und hier Probleme haben, dann sind sie integriert. Aber wenn die Kinder die Sprache nicht richtig können, viele keine Stelle haben, dann sind sie wohl nicht richtig integriert.

Warum hat sich Ihre Organisation vor zwei Jahren umbenannt vom „Bündnis Türkischer Einwanderer“ in „Türkische Gemeinde in Hamburg und Umgebung e.V.“?

Als wir uns gründeten, hat man Deutschland noch nicht als Einwanderungsland akzeptiert. Deshalb haben wir uns provokativ als Einwanderungsorganisation bezeichnet. Aber mittlerweile sind unsere Kinder und Kindeskinder hier in Deutschland geboren, es ist ihre Heimat geworden. Und inzwischen sind die Türken trotz allem integrierter als vor 20 Jahren.

Als der – durchaus umstrittene – Vorsitzende Hakki Keskin kurz nach der Niederschlagung des Kurden-Aufstands in der Türkei ein Ende des Waffenembargos forderte, stieß das auf viel Kritik. Wie wichtig ist die Verbindung zur Türkei heute?

Wir sympathisieren auch mit der Türkei. Wenn sie ungerecht behandelt wird, dann stehen wir auf ihrer Seite. Aber sonst nicht. In Deutschland beschuldigt man uns so und auf türkischer Seite umgekehrt: Nämlich, dass wir uns zu wenig mit türkischen Problemen beschäftigten. Aber unsere Satzung besagt, dass wir uns damit beschäftigen, wenn es uns hier in Deutschland tangiert. Tagespolitik interessiert uns nicht.

Der Aufstand der Kurden war keine Tagespolitik?

Das hat viele Vorurteile geschürt. Es war eine komplexe Sache und ich möchte mich jetzt lieber zu den Fragen hier in Deutschland äußern.

Wenn Sie verfolgen, wie die Tochter der Unternehmerfamilie Öger oder der Regisseur Fatih Akin gefeiert werden – haben Sie dann das Gefühl, Sie erleben mit, wie einer Generation der Durchbruch gelingt?

Fatih Akin ist ein Schulfreund meines Sohnes, er ist mit bei uns aufgewachsen. Wir begrüßen seinen Erfolg – aber wir denken nicht nur an die Vorzeigetürken. Auch die ganz durchschnittlichen müssen hier integriert werden.