: Zu Besuch bei Freunden
SOMMERNACHLESE Reise nach Italien
VON DANIELA WEINGÄRTNER
Wenn Freunde aus der Hausbesetzergeneration zusammensitzen, ist die Liste möglicher Themen überschaubar. Sohn Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt war, ist längst ausgezogen. Politik macht auch keinen Spaß mehr. Ein Glück, dass viele der Hausbesetzer von einst heute Zweithausbesitzer sind, denn Telecom Italia, die Parkbeschränkungen in oberitalienischen Kleinstädten oder die Unzuverlässigkeit sardischer Handwerker bieten unerschöpflichen Gesprächsstoff.
Für viele deutsche Grüne, Linke oder ehemalige Friedensbewegte ist Italien unverändert ihr Land der Sehnsucht. Die meisten zieht es in die Toskana. Wer sich das nicht leisten kann oder strikte Bauvorschriften und nasse Winter fürchtet, der versucht sein Glück noch weiter im Süden. Dort sind Briten und Iren längst angekommen. Auch sie locken italienische Lebensart, Geschichte und gutes Essen. Noch wichtiger aber ist für sie ein wolkenloser Sonnenhimmel. Den Regenschirm zu Hause lassen, mit Ryanair, Bus und Bahn oder Mietwagen eine Odyssee durchstehen und dann drei Wochen mit Lichtschutzfaktor 50 auf der Terrasse braten – das ist für sie der Traum vom Ferienglück.
Ein Häuschen in Italien – beim Tagträumen am kalten Küchentisch ist das der Ort der ungelebten Sehnsüchte, wo man endlich malen oder tischlern kann, mit den Nachbarn unter Apfelbäumen sitzen oder eigene Tomaten ziehen. Die reale Zweitimmobilie müsste der Ort sein, wo all diese im Alltag vernachlässigten Neigungen zu ihrem Recht kommen. Der italienische Stiefel bietet also reichsten Ertrag für eine Recherche über Lust und Last in den Häusern unserer Freunde.
1. Station: Luzern
WEITBLICK Ihre Schweizer Wohnung hat Panoramafenster. Er wollte den Kopf freibekommen für das, was wirklich wichtig ist
Auf einer Terrasse über Luzern, mit Blick auf den Vierwaldstättersee und die Alpenkette, beginnt unsere Erforschung. Hier würde mancher gern Urlaub machen. Deshalb haben Anne und Thomas bis heute kein Zweithaus, obwohl sie oft über die Möglichkeit sprechen. Die beiden besitzen allerdings Anteile an einem House-Sharing-Fonds, der über Immobilien in den aufregendsten Großstädten verfügt. In London, Paris, New York haben sie schon den Urlaub von der Luzerner Alltagsidylle ausprobiert.
Ihre Schweizer Wohnung ist in den Felsen hinein gebaut und hat Panoramafenster zu drei Seiten. Von hier aus ist Thomas zu Fuß nach Nizza aufgebrochen, nachdem er seine Werbeagentur kurz nach seinem 50. Geburtstag verkauft hatte. Er wollte den Kopf freibekommen für das, was wirklich wichtig ist. Heute arbeitet er wieder ein paar Stunden am Tag von zu Hause aus als Werbeberater. Außerdem macht er den Haushalt, und wenn abends seine Frau von der Arbeit kommt, hat er das Essen fertig. Statt eine Firma mit vielen Angestellten zu leiten, reist er heute mit leichtem Gepäck.
2. Station: Pigna
AUSBLICK Sie vertraut der ligurischen Logik, die besagt: Häuser aus Holz sind keine richtigen Häuser – folglich benötigen sie auch keine Behördenerlaubnis
Was unser Freund aus Luzern sich in Wochen erwandert hat, schaffen wir mit dem Auto in sechs Stunden. Über den Gotthardpass, an Mailand vorbei und über die Küstenautobahn bis Ventimiglia. Dann in die Berge hinauf. Die Anweisungen unserer Freundin Sabine waren präzise: „Hinter dem Baustoffhandel rechts über die alte Brücke, dann gleich wieder rechts und so lange auf teils Schotter, teils Asphalt weiterfahren, bis zur Linken ein Haus, etwas später eine grüne Wellblechhütte auftaucht. Das eiserne Tor und der Weg dahinter gehören bereits zu unserem Gelände.“
Eindeutige eine Frauenwegbeschreibung. Ein Mann hätte Kilometerzahlen angegeben oder Markierungspunkte zueinander in Bezug gesetzt. Dennoch bin ich nach vier Kilometern schottriger Haarnadelkurven und unbesiedelter Hänge immer noch sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Als das Haus, eine an den Hang geschmiegte Holzkonstruktion mit großer Terrasse, endlich auftaucht, erkenne ich es von den Fotos aus der Bauphase gleich wieder. Auf großen Lastern waren die Hölzer und Isolierglasscheiben bis zum Dorfplatz gebracht worden. Dort wurde umgeladen auf Pick-ups, die sich den steilen Hang hochquälen mussten.
Sabines Traum war ein Ferienhaus in der Nähe von Nizza. Doch die Grundstücke auf französischer Seite waren unbezahlbar. Dann fand sie im Internet ein kleines Grundstück im italienischen Grenzgebiet, flog hin und unterschrieb. Inzwischen hat sie von neuen Freunden aus dem Dorf weiteres Gelände zugekauft, mit Quelle und Zisterne.
Mit ihrem Freund und dem kleinen Sohn verbringt sie nun jeden Sommer dort, das erste Jahr im Zelt, jetzt im Holzhaus – das Klo auf der Terrasse hat jedenfalls den schönsten Ausblick in ganz Ligurien. Drei Jahre nach dem Bau ist das Terrain noch immer nicht auf ihren Namen eingetragen, eine Baugenehmigung hat sie nie eingeholt. Aber sie vertraut der ligurischen Logik, die besagt: Häuser aus Holz sind keine richtigen Häuser – folglich benötigen sie auch keine Behördenerlaubnis.
3. Station: Prata
PERSPEKTIVE Was als Ferienhausprojekt geplant war, hat sich in kurzer Zeit zum Lebensplan entwickelt
In dem einsam zwischen Olivenhängen gelegenen Traumhaus in der Toscana können wir uns nicht ankündigen, weil sich die Handys auf diesem Berg manchmal tagelang im Funkloch befinden. Auf die Festleitung von Telecom Italia warten unsere Freunde nun schon über ein Jahr. Immerhin gibt es inzwischen Wasser und Strom – wer hier mit den Behörden verhandelt, braucht gute Nerven und einen langen Atem. Als wir ohne Vorwarnung auf die Terrasse treten, blicken die beiden ein wenig erschreckt. Sie haben den ganzen Tag Holz gestapelt, und die Aussicht, jetzt auch noch Betten zu beziehen, erfüllt sie nicht gerade mit Freude.
Die beiden sind noch nicht lange Zweithausbesitzer. Da sie sich im Traumland der „Toskanafraktion“ zwischen Florenz und Siena niedergelassen haben, ist ihr Domizil ein beliebter Anlaufpunkt für Freunde. An klaren Tagen kann man von ihrer Terrasse aus Elba sehen. Die wenigen Ferienwochen sind immer zu kurz, um den Kräutergarten unter Brombeerranken wieder auszugraben, die Nachbarn zu besuchen und im nahen Städtchen auf der Piazza zu sitzen.
Doch das wird sich bald ändern. Im Januar werden die beiden ganz nach Italien umziehen, dann wird es ihnen sicher gelingen, das Haus auch mal ein paar Wochen ganz für sich allein zu haben. Was als Ferienhausprojekt geplant war, hat sich in kurzer Zeit zum Lebensplan entwickelt. Darüber haben wir eine Wette mit den beiden laufen: Jedes Jahr, das sie in der Oliveneinsamkeit durchhalten, wird eine Kiste Champagner fällig.
Die Toskana bei Dauerregen und scharfem Wind, wenn alle Feriengäste längst nach Hause zurückgekehrt sind? Lange Abende mit ein paar Aussteigern, die in den 70er Jahren hier hängen geblieben sind, mit ein paar Rentnern, die sich seit Jahren dieselben Geschichten erzählen? Die beiden sprechen gut italienisch und haben mehrere Jahre in Rom gelebt. Dorthin kommt man von hier in knapp drei Stunden. Man wird sehen, wer die Wette gewinnt.
4. Station: Irsina
EINBLICK Warum wird eine Marienbarbiepuppe mit blondem Echthaar durch die Straßen getragen und die handbemalte Heiligenfigur bleibt im Schrank?
Sehr viel weiter südlich, am Sporn des italienischen Stiefels, träumen auch Ann aus Irland und Jan aus Südafrika vom Lebensabend unter südlicher Sonne. Noch arbeiten die beiden in Brüssel. Von dort fliegen sie mehrmals im Jahr mit Ryanair nach Bari und fahren per Mietauto oder mit dem Zug weiter nach Irsina, einer Bergfeste mit Blick auf Olivenhaine und brandgerodete Weizenfelder. Im August haben die Bauern die Felder in „Luna-Territory“ verwandelt, wie Jan es nennt – eine Mondlandschaft aus hellbraunem Ackerland.
Die Einwohner von Irsina hatten die mittelalterliche Altstadt jahrzehntelang dem Vieh und den Tauben überlassen und dann in einer Bürgerabstimmung entschieden, Investoren aus dem Ausland zu suchen. Das unterscheidet den Ort von anderen italienischen Kleinstädten. Die Fremden aus Deutschland, Großbritannien oder den USA werden hier nicht als Devisenbringer geduldet, sondern als Nachbarn freundlich aufgenommen. Jedem Neuankömmling wird ein einheimischer Pate zur Seite gestellt, der Einkaufstipps gibt, bei Sprachproblemen hilft und nach Hause einlädt.
Ann hat das Immobilienangebot Irsinas vor zwei Jahren im Internet gefunden und ist kurz entschlossen mit Jan hierhergeflogen, um die kleinen an den Fels geklebten Wohnungen zu besichtigen. Nach einer schlaflosen Nacht nahm sie drei dieser Ruinen und zahlte fast 150.000 Euro dafür – diese Entscheidung hat sie nicht bereut. Ihr Altstadtblock enthüllte verborgene Schätze: in den Fels gehauene Räume und wunderschöne Terrassen, die sie erst bei einer Straßensanierung durch Zufall entdeckte. „In Ihre Küche dringt Wasser ein“, wurde sie von einem der Straßenarbeiter informiert. Doch ihre frisch sanierte Küche war trocken. Als sie aber das Bündel Schlüssel ausprobierte, das man ihr beim Kauf überreicht hatte, entdeckte sie verschachtelt darunter weitere Räume. Schritt für Schritt, wie eben das Geld reicht, macht sie Ferienwohnungen daraus, die sie über eine britische Agentur im Ort vermarktet.
Wie Migranten verbreiten sich auch Zweithausbesitzer nach dem Schneeballsystem. Ein Brite entdeckt auf der Durchreise das Haus seiner Träume, baut es aus und lädt Freunde ein. Die verlieben sich in die Gegend, kaufen ebenfalls eine Ruine, und die Eltern der Freunde ihrer Kinder tun es ihnen nach. So entdeckten auch Tracy und Byron Irsina. Die beiden arbeiten als Anwälte in Cardiff und machen sich zweimal im Jahr mit ihrer fast erwachsenen Tochter auf die weite Reise. Einen Mietwagen nehmen sie fast nie, denn Autofahren finden sie in Italien zu gefährlich.
Auch sonst befremdet sie vieles in ihrem Feriendomizil: 90.000 Euro aus der Stadtkasse verschlingt die jährliche Osterprozession? Warum wird dabei eine Marienbarbiepuppe mit blondem Echthaar durch die Straßen getragen und die handbemalte Heiligenfigur aus dem 14. Jahrhundert bleibt im Schrank? Warum werden die vom Alter glänzend geschliffenen Natursteine im Kirchenraum durch neue Kacheln aus dem Baumarkt ersetzt? Umgekehrt dürfte auch Tracys und Byrons Verhalten bei den Einheimischen einiges Befremden auslösen: Warum benutzen sie so starkes Sonnenschutzmittel, dass sie nach 3 Wochen Irsina aussehen, als hätten sie gerade das regnerische Cardiff verlassen? Warum wundern sie sich, wenn die Tochter im ultrakurzen Jeansrock von den einheimischen Mädchen angefeindet wird, weil sie ihnen bei den Jungs in die Quere kommt? Warum nehmen die beiden eine mühsame Tagesreise auf sich, um drei Wochen lang auf der winzigen Terrasse ihres halb sanierten Häuschens zu sitzen und in die sonnenverbrannte Ebene zu schauen?
Byron versucht sich an einer Erklärung: den Blick in die Weite, den Adler, der am wolkenlosen Himmel kreist, das Geräusch spielender Kinder auf der Straße und den fröhlichen lauten Tratsch der Nachbarn – all das gibt es in Cardiff nicht.