die taz vor 17 jahren über kohls geschichtspolitik und die polnische westgrenze
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Jene Abgeordneten, die im November 1986 bei Phillip Jenningers Ansprache den Saal verließen, hätten gestern weitaus mehr Anlaß dafür gehabt. In seiner Regierungserklärung hat Kanzler Kohl auf der ersten Seite die Kriegsschuld Hitlers anerkannt, um auf den folgenden 17 Seiten die Kriegsschuld der Deutschen zu relativieren. Die Oppositionsparteien sind genügsam genug, sich mit der ersten Seite zu begnügen. In der SPD-Fraktion hoben sich gerade vier Hände gegen diese Regierungserklärung, in der es heißt: „Patriotismus geringzuschätzen, wäre im Sinne Hitlers.“

Die regierungsamtliche Version der Geschichte ist also seit gestern folgende: Hitler stellte den Gedanken der Rasse über den der Nation; weil dieses Unternehmen schiefging, war er ein Feind des deutschen Volkes. Die ehrlichen Soldaten der Wehrmacht haben das zu spät gemerkt, aber Schwamm drüber, jetzt gibt es nur noch die andere Diktatur im Osten, und die fällt ja gerade in sich zusammen. Jenninger mußte gehen, weil er dumme Fragen stellte. Kohl kann bleiben, weil er dreiste Antworten gibt. Das ist, mit Kohl gesprochen, die „sittliche Substanz“ des gestrigen Vormittags.

Die politische Substanz ist folgende: Die Konservativen halten die revanchistische Flanke offen, weil sie vielleicht noch gebraucht wird. Verbal bekennt man sich zum Warschauer Vertrag, doch die Gültigkeit der polnischen Westgrenze explizit bekräftigen, das will man vorsichtshalber nicht. Die revanchistische Flanke wird aus einem doppelten Grund offengehalten: Kurzfristig innenpolitisch als Zuckerbrot für die „Republikaner“, aber in der langfristigen Strategie auch prinzipiell: Vielleicht gelingt ja die politisch-ökonomische Durchdringung des „Ostens“ doch nicht in ausreichendem Maße. Vorerst ist die Grenzdiskussion nicht „aktuell“ (Dregger), weil zuviel Säbelrasseln die Öffnung Polens zum Westen stören könnte.

Charlotte Wiedemann taz vom 2. 9. 1989