„Ich weiß, wie ich am besten stöhne“

JUNG Emma Neuner ist 26 und war es lange nicht gewohnt, die Kontrolle zu verlieren. Sie ließ sich gefühllos entjungfern und bewertete Sex nach ihrer eigenen Leistung: Fand sie sich gut, stieg ihr Selbstwertgefühl

Ich drehte fast durch, als ich einsah, dass wir kein Paar werden. Um den Schmerz zu betäuben, strich ich Wände

PROTOKOLL SIMONE SCHMOLLACK

Meinen Slip hatte ich schon im Auto ausgezogen. Langsam stieg ich die Treppen hoch zu seiner Wohnung. Meine Lederstiefel klackten über jede Stufe, das schwarze Kleid umspülte meinen Körper wie Wasser.

Er stand in der Tür, küsste mich. Er hatte gekocht, ich habe vergessen, was es war. Noch in der Küche habe ich ihm einen geblasen, er schob mich ins Schlafzimmer. Es war das erste Mal, dass wir uns trafen, nachdem wir uns wenige Wochen zuvor auf einem Fest kennengelernt hatten. Er war über zwanzig Jahre älter als ich, verheiratet, Chef eines mittelständischen Unternehmens, souverän, humorvoll.

Die Begegnung mit diesem Mann, ich nenne ihn jetzt Theo, veränderte mein Leben. Sie brachte zum Kippen, was ich glaubte über Lust zu wissen und erlebt zu haben. Er drückte mich aufs Bett und sagte: „Du wirst es genießen.“

Ich war skeptisch, ich war es nicht gewohnt, passiv zu sein, schon gar nicht beim Sex. Und ich war es nicht gewohnt, die Kontrolle über mich abzugeben. Niemand anderes als ich bestimmte sonst das Spiel. Aber jetzt war da einer, der mich dominieren wollte. Nicht herrisch, nicht egoistisch. Im Gegenteil, er wollte es mir schön machen. Seine Küsse auf meinem Körper galten allein mir, seine Sexualität sollte meine Lust sein.

Das irritierte mich. Bis dahin glaubte ich, Sex sei besonders gut, wenn er vor allem dem Mann gefällt, er abgeht wie eine Kanone. Ich weiß, wie ich einen Mann dahin bekomme, ich habe das gelernt. Pornos, Bücher und erotische Texte kriegt man ja an jeder Ecke. Von Freunden habe ich mir erklären lassen, was Männer mögen. Ich weiß, was meine Hände und meine Zunge tun müssen. Wie ich am besten stöhne. Was ich sage.

Ich bin 26 und studiere Germanistik in einer deutschen Großstadt. Ich komme vom Dorf und bin eine echte Spätzünderin, den ersten Sex hatte ich mit 19. Meine Klassenkameradinnen erlebten ihr erstes Mal mit 14 oder 15. Als sie sich damals über Sex unterhielten und kicherten, um ihre Unsicherheit zu verbergen, wenn sie Fragen stellten, saß ich stumm daneben. Alle glaubten, mich langweile das Gerede über Sex, sie dachten, ich hätte das längst hinter mir, weil ich seit Jahren einen Freund hatte. Aber ich hatte nichts durch, ich wusste überhaupt nicht, was abging. Ich trug eine feste Zahnspange und hatte immer Angst, meinen Freund damit zu verletzten.

Und ich hatte eine Mutter, die in mir eine Konkurrentin sah. Sie lachte mich aus und sagte: Wer mit 18 noch Jungfrau ist, stellt sich schon ziemlich dämlich an. Mit 18 war meine Mutter das erste Mal schwanger.

Wir – mein Vater, mein Bruder und ich – nannten sie „Königin Mutter“. Sie verhielt sich wie eine Diva, wertete andere ab, um sich zu erhöhen. Sie ließ sich bedienen, besonders von den Männern in der Familie. Ich schwor mir: So wirst du nie. Ich putzte, ich wusch, ich kochte. Ich wollte alles selber machen und bestimmen. Auch Sex. Heute würde ich sagen, ich wollte dienen.

Mit meinem ersten Freund war ich drei Jahre zusammen. Er war ein „Guter“, wie man so sagt: liebevoll, nachsichtig. Er hat mich nie zu etwas gezwungen, schon gar nicht zum Sex. In den Jahren, die wir zusammen waren, haben wir nicht ein Mal miteinander geschlafen. Nicht, weil ich es nicht gewollt hätte. Ich konnte es einfach nicht, ich konnte ihn nicht in mich hineinlassen. Irgendwann verließ ich ihn, weil ich glaubte, dass er nicht glücklich würde ohne Sex.

Kurz darauf ließ ich mich entjungfern, rein mechanisch. Es ergab sich eher zufällig und war schnell vorbei. Danach hatte ich Beziehungen, serielle Monogamie in schneller Abfolge. Es waren coole Jungs dabei, jüngere Männer, ein Vater, ein Saudi. Den Saudi habe ich entjungfert. Danach betete er zu Allah.

Das Größte am Sex für mich war, wenn die Männer mir erlegen waren, wenn ich merkte, wie sie durch mich schmelzen, wie sie vergessen, wer sie sind und wo sie sind, wenn ich sie befriedige. Oral, anal, mit der Hand. Es putschte mich auf, die Männer aufzuputschen. Meine Macht über sie erregte mich. Ich bewirtete sie, legte vor, dirigierte. Das brauchte ich für mein Selbstwertgefühl. Ich glaubte, ich bin gut, wenn der Sex mit mir besser als mit anderen ist.

Manche Männer merkten nicht mal, dass ich mir meine Orgasmen selbst besorgte. Erst Theo zeigte mir, dass es nicht darum geht, vor allem dem anderen Exstase zu verschaffen, sondern genauso mir. Theo verschaffte mir Höhepunkte.

Bei unserem ersten Date verband er mir die Augen. Zuerst bedrohte mich der Kontrollverlust. Was soll schon passieren, dachte ich dann. Wir trafen uns heimlich am Wochenende, seine Frau wusste zunächst nichts von seinem Seitensprung. Wir redeten viel über das, was wir taten, und über das, was wir noch tun wollten. Wir waren hemmungslos. Wir kauften Handschellen, Dildos, Vibratoren, Lederpeitschen. Ich deckte mich mit Spitzen- und Seidenunterwäsche ein, mit Lederbustiers, Gleitgels, Nippelklemmen. In meinem Kleiderschrank füllt das Zeug ein ganzes Fach, gut tausend Euro gab ich aus. Wir gingen in Swingerclubs, waren bei einer Domina, trieben es in einem Pornokino, wir hatten Gruppensex.

Manchmal deutete Theo nur an, was er gerne hätte – und ich setzte es um. Wenn sich unsere Körper verkeilten, war das für mich der intimste Moment. Diese Nähe war ein Teil unserer Kommunikation.

Davon wollte ich mehr, ich wollte Theo für mich. Ich liebte ihn. Und begriff, dass der Sex mit ihm wegen der großen Emotionalität so betörend war. Ohne Liebe empfinde ich Sex nicht annähernd als so erregend. Ich begriff auch, dass ich im Laufe der Affäre in meine alte Rolle gefallen war: Ich bediente Theo, weil ich wollte, dass er seine Frau verlässt.

Aber ich kriegte ihn nicht. Einmal stand er mit drei Koffern vor meiner Tür. Nach zwei Wochen war er wieder verschwunden. Ich drehte fast durch, als ich verstand, dass wir nie ein Paar sein würden. Um den Schmerz zu betäuben, strich ich die Wände in meiner Wohnung, ich lernte wie eine Besessene fürs Studium, stand viel auf dem Balkon und rauchte.

Wahrscheinlich wäre ich in meinem Leid versunken, hätten Freunde mich nicht auf eine Party geschleppt. Dort lernte ich Peter kennen. Ich war nicht in der Stimmung für irgendetwas. Aber Peter – etwa gleich alt und höflich – ließ nicht locker. Wir trafen uns zum Pizzaessen wieder – und landeten am Abend in seinem Bett. Ich fürchtete, es könnte schiefgehen. Weil ich emotional besetzt war. Weil mein Körper Theos Körper gewohnt war.

Aber was soll ich sagen? Peter wusste, worauf er sich einließ. Er versprach mir auch nichts. Wir sagten: Schauen wir, was passiert. Wir tun nichts dafür und auch nichts dagegen. Das machte uns frei. Seelisch, sinnlich, sexuell.

Ich weiß nicht, was aus uns wird. Aber ich weiß, dass das die erste Beziehung ist, in der ich nicht beherrschen und nicht beherrscht werden will. Ich tue nichts in der Erwartung, dafür belohnt zu werden.

*Name geändert