Schiit gegen Sunnit

AUS ERBIL INGA ROGG

In Bagdad werden schwer verletzte Patienten von schiitischen Milizionären aus Spitälern gezerrt und erschossen, weil sie Sunniten sind. Mörder rufen Angehörige ihrer Opfer an, um diese dann ebenfalls umzubringen. Nachdem Schiiten und Sunniten zu tausenden aus den gemischten Wohnvierteln der Hauptstadt geflohen sind, markiert der Tigris mehr und mehr die Scheidelinie zwischen den konfessionellen Enklaven. Wenn Schiiten von Baathisten reden, meinen sie längst nicht mehr die Stützen der Saddam-Diktatur, sondern generell alle Sunniten. Wenn Sunniten umgekehrt den abschätzigen Begriff „Iraner“ gebrauchen, meinen sie nicht nur die Verbündeten Teherans. Selbst unter Politikern geht es kaum noch um Differenzen zwischen den Parteien, sondern nur noch um den einen großen Unterschied: Schiit oder Sunnit.

Mehr als 15.000 Tote hat die Gewalt im Irak zwischen März und August gefordert, ein Großteil der Todesopfer ging dabei auf das Konto von schiitischen und sunnitischen Milizen, Mordkommandos und Bombenlegern. Angesichts dieser Entwicklung sind selbst in der Bush-Administration die optimistischen Töne leise geworden. Die Anschläge haben sich seit Frühjahr 2004 von 423 auf mittlerweile 792 pro Woche fast verdoppelt, stellte das Pentagon am Wochenende in seinem Vierteljahresbericht fest. Noch scheut man sich in Washington davor, von einem Bürgerkrieg zu sprechen, die Voraussetzungen dafür seien jedoch gegeben, heißt es in dem Bericht.

Ob man die katastrophale Entwicklung Bürgerkrieg nenne oder nicht, sei unerheblich, sagt Dhia al-Schakarchi. „Zwischen Schiiten und Sunniten besteht heute eine tiefe Feindschaft“, sagt der Politiker. „Wir hatten mit vielem gerechnet, doch nicht mit der extremen Radikalisierung.“ Dafür verantwortlich macht der 62-Jährige nicht nur die sunnitischen Extremisten, sondern auch die Vertreter der Schiiten. Al-Schakarchi ist selbst Schiit und gehörte bis vor kurzem der Dawa-Partei von Ministerpräsident Nuri al-Maliki an, war lange Jahre einer ihrer Vordenker. 2003 kehrte er nach mehr als 20 Jahren Exil aus Deutschland in den Irak zurück, um einen demokratischen Staat aufzubauen. „Wir wollten einen islamischen Staat, der auf dem Grundsatz der Toleranz gegenüber den Andersgläubigen und Andersdenkenden gründet“, sagt er. Gut drei Jahre später hat sich bei al-Schakarchi Ernüchterung eingestellt.

Die führenden schiitischen Politiker hätten die Iraker getäuscht, meint al-Schakarchi. Dem Hohen Rat für die islamische Revolution (Sciri), aber auch der Bewegung des radikalen Predigers Moktada al-Sadr, der zu Beginn als irakischer Nationalist in Erscheinung trat, wirft Scharkachi vor, heute als verlängerter Arm des Iran zu agieren. Die Sunniten ihrerseits würden den Hass schüren, indem sie keinerlei Bedauern über die unzähligen schiitischen Opfer des Saddam-Regimes zeigten und die Schiiten als Verräter denunzierten.

Obwohl sich die Schiiten darin einig gewesen seien, dass die iranische Revolution ein Irrweg war, würden alle Fraktionen doch die Autorität der Geistlichen über die Politik stellen. „Damit machen sie die Religion zum Machtinstrument“, sagt al-Schakarchi. „Das ist der Grund für die Misere in unserem Land.“

Mittlerweile hält al-Schakarchi den politischen Islam für eine Sackgasse. Denn wie immer man es drehe und wende, der Weg führe zum Terrorismus. Der Politiker, der mit seinem kurzen weißen Bart auf den ersten Blick als frommer Mann zu erkennen ist, plädiert deshalb für ein radikales Umdenken. „Nur eine wirkliche Demokratie mit einer Trennung von Religion und Politik kann unser Land retten“, sagt er ruhig. „Denn nur sie bietet allen Glaubensrichtungen und Überzeugungen Platz.“