Shakespeare für Anfänger


AUS KÖLN PETRA WISCHGOLL

Wie ein Spot strahlt die Sonne durch die hohen Fenster in den Saal. Genau auf Sir Toby aus Uganda. Aber der steht nur ratlos da, die Hände in den Hosentaschen. Er hat seinen Text vergessen. Gelernt hat er ihn, die Szene „Sir Andrews Abschied“ aus Shakespeares „Was ihr wollt“ oft genug geprobt. Doch jetzt fehlen ihm die Worte. Bis ihn Sir Andrew ungeduldig am Pulli zupft. „Ey, du musst jetzt hinter mir her gehen und mich zulabern, denn ich will abhauen“, sagt er. Regisseur Hans-Peter Speicher nickt. So in etwa, wenn auch blumiger formuliert, steht es im Skript.

Die Zeit drängt. Das Stück feiert am 6. September im Alten Wartesaal am Kölner Hauptbahnhof Premiere. Die Inszenierung ist Teil von „Shakespeare“, einem berufsfördernden Modellprojekt für junge Flüchtlinge, die keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben. Es ist auf zwei Jahre angelegt und einzigartig in Deutschland. 23 Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren nehmen momentan daran teil, unter ihnen auch Sir Toby und Sir Andrew, die im wirklichen Leben Joshua und Nelson heißen.

Heute haben die beiden es schwer. Immer wieder werden sie von Regisseur Speicher unterbrochen. Der gelernte Linguist und Schauspieler mit seiner runden Brille und grauem Dreitage-Bart gestikuliert wild herum und erklärt den Jungs manchmal etwas zu lautstark ihre Rolle. Der Regisseur hat das Stück teilweise in die Alltagssprache umgeschrieben, der Satz „Sir Toby, was geht ab?“ stammt offensichtlich von Shakespeare. Den englischen Poeten hat Speicher bewusst gewählt. „Die Stücke lassen Raum für Verfremdung und behalten dabei ihren typischen Charakter.“ Eine Komödie musste es sein, Probleme hätten die Jugendlichen schließlich genug.

Wege aus der Sackgasse

Seit Anfang des Jahres arbeiten die Mitarbeiter von Shakespeare mit den Jugendlichen, die aus verschiedenen Ländern Afrikas, aus Afghanistan und dem Kosovo stammen. Als Geduldete besitzen sie weder eine Arbeitserlaubnis, noch die Gewissheit, ob und wie lange sie in Deutschland bleiben dürfen. Da die Schulpflicht nur bis zum 16. Lebensjahr gilt und die Jungen und Mädchen oft nicht gut genug Deutsch sprechen, um eine weiterführende Schule zu besuchen, endet die Flucht schnell in der Sackgasse. Zwar gibt es internationale Förderklassen, in denen die jungen Leute Deutsch lernen können. Aber diese Plätze reichen bei weitem nicht aus. Genau dort springt Shakespeare ein.

Denn das Kölner Projekt bietet den Flüchtlingen eine Perspektive, eingewickelt in einen straffen Wochenplan: Vormittags gehen sie zum Unterricht, lernen unter anderem Deutsch, Mathe und EDV. Dazu werden sie wahlweise in Service- und Dienstleistungen, Metall oder Handel und Verkauf weitergebildet, absolvieren Praktika. Nachmittags steht Theater auf dem Stundenplan. Finanziert wird Shakespeare von der EU, dem Land NRW, dem katholischen Verband für Mädchen und Frauensozialarbeit „In Via“ und Spenden. Das Ziel: den Jugendlichen eine berufliche Grundausbildung mit auf den Weg zu geben, die ihnen ein unabhängiges Leben ermöglicht – sei es in Deutschland oder in ihrem Herkunftsland. Das Theaterspielen soll ihr Selbstbewusstsein stärken und ihnen spielerisch Deutsch beibringen.

Das mit der Sprache ist nämlich so eine Sache, findet Nelson. Als der 18-jährige Waise vor vier Jahren aus Simbabwe nach Köln kam, verstand er kein Wort. Bevor er Shakespeare kennen lernte, besuchte der junge Afrikaner Förderklassen und arbeitete in einer Jugendwerkstatt. „Das war echt schwer, denn zu Hause habe ich die Schule nur bis zur zweiten Klasse besucht.“

Mittlerweile, sagt Nelson, sei sein Deutsch viel besser geworden. Und durch seine Rolle könne er jetzt sogar Wörter aussprechen, die ihm zuvor so gar nicht über die Lippen kommen wollten. „Sockenhalter und herausgefordert“, sagt er in perfektem Deutsch und grinst. Denn bei jeder Probe sitzen ehrenamtliche Helfer im Hintergrund und soufflieren den Text. Manchmal Wort für Wort. Gnadenlos korrigieren sie, bis der Satz sitzt. Ohne Deutsch, sagt Projektleiterin Gabi Klein, können sich die Jugendlichen nicht integrieren, auch wenn sie es wollen. „Ohne Arbeit, Schule und mit geringen Sprachkenntnissen sind sie zum Nichtstun verdammt.“

Mittlerweile ist auch Arifa in den großen Saal gekommen. Die 19-Jährige ist mit dem Unterricht fertig und setzt sich neben die Souffleuse, schaut ihr über die Schulter. Shakespeare, das wiederholt die junge Roma so wie alle Teilnehmer immer wieder, sei „sehr schön und eine Ablenkung“. Auf jeden Fall ist es besser als zu Hause, in einer Drei-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock eines Flüchtlingsheimes, mit ihren vier Geschwistern und den Eltern zu hocken.

Vor sechs Jahren floh die Familie aus Pristina im Kosovo nach Deutschland. An vieles kann sich Arifa nicht mehr erinnern, und eigentlich will sie das auch gar nicht. Nur eines fühlt sie noch genau: diese Angst, als ihr die Bomben und Kugeln um die Ohren flogen und sie stundenlang im Luftschutzkeller sitzen musste.

Jede Rolle doppelt besetzt

„Das war Scheiße damals“, flüstert sie. Zurück will sie nie wieder, ihr sehnlichster Wunsch ist eine Arbeitserlaubnis. Eine Sozialarbeiterin, die regelmäßig in dem Flüchtlingsheim vorbei schaut, schickte Arifa zu Shakespeare. „Ich möchte viel lernen“, sagt Arifa, „so viel wie nur möglich.“ Mit ihren Jeansklamotten, den Glitzerohrringen und den schicken schwarzen Turnschuhen unterscheidet sie sich so gar nicht von ihren Altersgenossinnen. In dem Stück hat sie eine kleine Rolle, doch das ist ihr egal. „Ich kann meinen Text auswendig, und den der anderen auch“, sagt sie stolz.

So hoch motiviert wie Arifa war zu Beginn der Theaterproben fast keiner der Teilnehmer. „Die wollten alle nur Deutsch lernen“, erinnert sich Regisseur Speicher. Doch langsam haben sie Geschmack am Schauspielern gefunden. Momentan bedeuten die Proben für sie alles. „Ich musste versuchen, sie alle unterzukriegen“, sagt Speicher.

Untergekriegt hat der Shakespeare-Regisseur sie dann auch alle. Jede Rolle hat eine Doppelbesetzung – wenn auch aus eher praktischen Gründen. „Durch ihren unsicheren Aufenthaltsstatus können die morgen abgeschoben werden, und dann fehlt mir die Person“, bilanziert Speicher nüchtern. „Darauf will ich es nicht ankommen lassen.“ Einmal, bei Aliou, dachten sie, dass er nicht mehr wiederkommt. Eines Tages stand das Ausländeramt vor der Tür des 19-Jährigen aus Togo. Er sollte mit nach Berlin kommen, zur togolesischen Botschaft, es ging um seinen fehlenden Pass. „Wir wussten nicht, was mit ihm passiert“, sagt Projektleiterin Klein. Doch Aliou kam wieder, momentan paukt er seine Rolle. Er spielt den Narren.

„Wie ein Sechser im Lotto“

Diese Sorge hat Gabi Klein ständig. Mit ihren Kollegen und den ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut sie die Jugendlichen. Die Sozialarbeiterin organisiert Praktika, hilft bei der Wohnungssuche. Sie treibt Sponsoren auf, mit deren Hilfe die Jungen und Mädchen die Fahrkarte zu den Unterrichtsräumen in der Kölner Südstadt bezahlen können. Und manchmal schimpft sie auch ein bisschen, wenn einer der Jugendlichen einen wichtigen Termin verpennt hat. Die Atmosphäre, betont sie, sei wirklich gut. „Die Jugendlichen verstehen sich untereinander sehr gut.“ Richtig stolz ist die Betreuerin auf ihre Schützlinge. „Viele haben sich unglaublich verändert“, sagt Klein und strahlt dabei ein bisschen. „Manche hatten gar keine Alltagsstrukturen mehr. Sie haben sich hier ernorm stabilisiert, sind richtig aufgeblüht.“

Speicher trommelt die Jugendlichen zusammen. „Jetzt ist Mittagspause, in einer Stunde treffen wir uns hier alle wieder, aber pünktlich!“, sagt er und betont dabei jede Silbe. Doch bevor alle gehen, hat Theaterpädagogin Birgit Urbanus noch eine gute Nachricht. Joshua, Sir Toby, hat eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. „Das ist wie ein Sechser im Lotto“, sagt sie. Joshua lächelt. Wenn alles glatt läuft, kann er bald in Deutschland so leben, wie er sich das vorstellt. Er wäre dann der erste von Shakespeare, der das geschafft hat.

„Was ihr wollt“, am 6. und 7. September jeweils um 19 Uhr am Alten Wartesaal im Kölner Hauptbahnhof. Karten (12,50/7,50 Euro) : 0221/ 348 90 51 oder shakespeare@invia-koeln.de