ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Könnte Gülle sein, hoffte ich, nur Gülle

Das in Bayern gefundene Gammelfleisch soll in „ekelerregendem Zustand“ gewesen sein? Dass ich nicht lache!

Wer ist der Verbraucher? Hm. Der Verbraucher ist ein verdammt zäher Typ. Eine coole Sau, sozusagen. Hätte ich die Hauptrolle in einem knallharten Horrorfilm zu besetzen, der Verbraucher wäre mein Mann! Er hat Nerven wie Drahtseile und einen Magen wie der Weiße Hai. Nichts kann ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Was kümmert es unseren Helden, wenn er als raupengleicher Vielfraß beschrieben wird, dessen problematischem Verhalten unbedingt Einhalt oder wenigstens Nachhalt zu gebieten sei? Nichts.

Um seine sprichwörtliche Zufriedenheit zu erschüttern, bedarf es schon schwerer Geschütze – wie Gammelfleisch, Börsencrash, Schimmel, Acrylamid, Frostbeulen, Fahrpreiserhöhung oder Vogelgrippe. Aber selbst darauf reagiert der Verbraucher nie entsetzt, enttäuscht, perplex, panisch oder wenigstens nachdenklich – sondern, höchstens, wie John Wayne in einer Schwulenbar, nämlich „verunsichert“.

Was es mit dieser „Verunsicherung“ auf sich hat, weiß ich aus meiner Zeit als echter Werktätiger. Damals verbrachte ich, mit dummem Mützchen auf dem Kopf und stets um einen Rest an Selbstachtung bemüht, einen heißen Sommer hinter dem Steuer eines gelben Lieferwagens, von morgens bis abends Pakete, Päckchen und Postwurfsendungen durch die Lande chauffierend. Und auch wirklich an die Leute bringend, was mir immer sehr wichtig war. Bis heute bringen mich diese „Empfänger konnte nicht angetroffen werden“-Kärtchen im Briefkasten zur Weißglut, und so lieferte ich eben oft später, wenn ich den Empfänger tatsächlich antreffen konnte.

Zumal ich meine Pappenheimer bald kannte: Den Schrotthändler vor der Stadt, dem der Quelle-Versand wöchentlich neue Dessous schickte („Is für meine Frau.“); die nette algerische Großfamilie im Hochhaus, die schlecht adressierte und gut verschnürte Päckchen aus der Heimat bekam („Sie freundlich, bleiben zu Essen?“); die Damen vom Tierheim, die sich spezielles Futter für ihre Frettchen per Post kommen ließen („Was anderes fressen die Biester nicht!“); die ruhigen Einfamilienhausfamilien, wo immer jemand auf diskrete Pakete von Beate Uhse wartete („Kriegen Sie eigentlich Trinkgeld?“). Ich hatte viel zu tun.

So viel, dass mir der bestialische Gestank in meinem Lieferwagen zunächst gar nicht auffiel. Das heißt, anfänglich war es noch gar kein Gestank, nicht einmal ein richtiger Geruch. Mehr eine Ahnung, irgendwie metallisch, als wäre etwas mit dem Wagen nicht in Ordnung. Ich schnupperte an der Handbremse, an meiner neuen Armbanduhr, sogar unter der Motorhaube – nichts. Nach ein paar Tagen in brütender Hitze hatte sich die Ahnung in einen Geruch verwandelt. In einen eindeutig organischen Geruch, der auch dann nicht verduftete, wenn ich mit offenen Fenstern unterwegs war. Könnte Gülle sein, hoffte ich, nur Gülle. War’s Gülle?

War es nicht. Noch zwei Wochen, und der Gestank hatte sich voll entfaltet. In meinem Auto, in meinen Kleidern, in meinen Träumen. Empfänger, so angetroffen, prallten bald vor mir zurück, ganz instinktiv. Also überwand ich mich und begann den Berg der Pakete abzutragen, die ich bisher noch nicht ausgeliefert hatte. Dort, ganz unten, schwitzte etwas, sickerte und troff mir über die Finger. Es kam aus einem schlecht adressierten und gut verschnürte Päckchen. Die algerische Familie jedenfalls schien begeistert, rief vielkehlig „Endlich!“ und lud mich, doch zum Essen zu bleiben, es gäbe Hammel, gut abgehangen, aus der Heimat, na?

Einen Tag später hatte ich meinen Job an den Nagel gehängt. Der Gestank verfolgt mich noch jetzt, während ich diese Zeilen tippe. Es wäre sinnlos, ihn beschreiben zu wollen. Ich hab’s versucht, wirklich versucht, aber mir fehlten die passenden Worte dafür, weil es keine passenden Worte dafür gibt. Bis heute hat daher niemand mein Entsetzen nachvollziehen können – bis auf meinen Freund Alex, den Soldaten. Ihn habe das damals auch sehr verunsichert, meinte er mitfühlend, als er in Bosnien an der Öffnung mittelfrischer Massengräber beteiligt war.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Noch hungrig? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN