Nicht jedermanns Freundin

MUSIKFEST Eine Konzertreihe mit Werken von Pierre Boulez beendet das diesjährige Musikfest. Der 85-jährige Komponist war dabei und dirigierte sogar selbst

Yeree Suh sang Boulez’ Musik, als singe sie gar nicht, sondern erfinde eine neue Sprache

Am Ende holte der Maestro den Meister auf die Bühne. Zum Abschluss des diesjährigen Musikfests hatte Daniel Barenboim Pierre Boulez’ „Notations“ gespielt (auf dem Flügel) und dirigiert (die Staatskapelle).

Das war eine erhellende Unternehmung, denn der Kontrast zwischen Klavierfassung und der Version für Orchester in Maximalbesetzung verdeutlichte ein zentrales Moment im Schaffen von Boulez: den permanenten Prozess des Weiterentwickelns bereits komponierten Materials. Viele Werke existieren in mehreren Fassungen; ihre Entstehungszeiten können durchaus Jahrzehnte auseinanderliegen. Ein Komponistenleben als Work in Progress. Diesem Leben widmete das Musikfest dieses Jahr einen Schwerpunkt, und das war auch insofern etwas Besonderes, als der Komponist sowohl noch lebt als auch leibhaftig anwesend war. Der 85-Jährige dirigierte an einem Abend selbst die Philharmoniker und saß ansonsten mit im Saal.

Mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle das Musikfest zu beschließen, hatte sich anbieten müssen, hat doch Barenboim die „Notations“ schon mehrfach aufgeführt. Er ist ein alter Weggefährte von Boulez. Für das Abschlusskonzert auf große Namen zu vertrauen ist aber nur die halbe Miete. Schon vor dem Konzert wurde die festliche Erwartung durch den Anblick der Abonnenten gedämpft, die vor dem Eingang der Philharmonie versuchten, ihre Karten zu verkaufen. Das Ende des Musikfests war gleichzeitig Saisonauftakt der Staatskapelle, und die Musik des 20. Jahrhunderts hat nicht nur Freunde.

Doch sie will ja auch nicht jedermanns Freundin sein und gibt sich gern spröde. Deshalb tut Daniel Barenboim in der ersten Konzerthälfte sein Bestes, Boulez’ Stück „Dérive 2 für 11 Instrumente“ vorab zu erklären. Sein Hinweis, auf „Freiräume“ in der Musik zu achten, um die einzelnen Sätze voneinander trennen zu können, kann aber nur begrenzte Hilfe bieten angesichts der kompromisslosen Dichte und Länge der Partitur. Insgesamt sind nach der ersten Hälfte fast zwei Stunden vorbei. Der eindrucksvollen Aufführung der „Notations“ begegnet man nach der Pause bereits mit einer gewissen Erschöpfung. Auch Daniel Barenboim sieht müde aus, nachdem er seine herkuleische Aufgabe als Pianist und Dirigent des Riesenorchesters erfolgreich absolviert hat. So endet das Musikfest mit einem Kraftakt.

Schöner wäre vielleicht gewesen, es ausklingen gehört zu haben etwa mit „Pli selon pli“, einem fünfteiligen Werk nach Gedichten Mallarmés, das nur sehr selten komplett aufgeführt wird. Die Bamberger Symphoniker hatten es am Sonntag zu Gehör gebracht, zusammen mit der Sopranistin Yeree Suh, die Boulez’ Musik sang, als singe sie gar nicht, sondern habe soeben eine neue Sprache erfunden.

Übrigens wurde der größte Teil von Boulez’ Vokalwerken auf dem Musikfest aufgeführt, was im Hinblick auf das Gesamtwerk, in dem sie einen eher kleinen Teil einnehmen, deutlich übergewichtet ist. Doch zeigt sich in ebendiesem Teilwerk der Komponist am zugänglichsten. Die Arbeit mit und an der Sprache stellt zwangsläufig eine kommunikative Verbindung zwischen Schöpfer und Rezipienten her, in der die Hermetik der intellektuellen Durchformung gleichsam davonschmilzt.

Ein Konzert hat es gar gegeben, in dem man anfing zu glauben, es könne den Surrealismus sogar in der Musik geben, die Aufführung von „Le Marteau sans maître“ für Altstimme und fünf Instrumente nach Gedichten von René Char. Exquisit dargeboten vom Ensemble intercontemporain, vor ebenso exquisitem Publikum, ein leider heimliches Highlight. Und dann, noch zu Beginn des Musikfests, gab es jenen großen magischen Moment. Als Susanna Mälkki nach den letzten Tönen des opulenten „Le Visage nuptial“ diese überführte in eine vollkommene, klingende Stille. Auch das wäre ein herrliches Ende gewesen.

KATHARINA GRANZIN