Im Reich des Lungerns

Es geht voran: Berlin-Neukölln ist Trendsetter einer neuen Nichtbewegung

Unser Prinzip heißt nicht mehr ‚von der Straße runter‘, sondern ‚rauf auf die Straße‘

Neukölln boomt. Wider sämtliche Unkenrufe nehmen in diesem Bezirk der Schmerzen die Menschen Herz und Schicksal in beide Hände und kämpfen engagiert gegen tatenlose Ohnmacht. Ein Ortstermin in der ehemaligen „Bronx von Berlin“ (Der Spiegel) lässt uns staunen: In fast jeder Straße haben neue Lungereien aufgemacht, vor denen mit vollem Einsatz herumgelungert wird.

Gewiss – ausgiebig gelungert wurde hier schon immer. Von jeher sieht man jüngere bis mittelalte Männer auf den Bürgersteigen scheinbar „ziellos herumstehen und auf gar nichts warten“, wie der unbefangene Beobachter glauben mag. Genau darin besteht der Irrtum, der dem Beruf des Lungerers zu einem eher zwiespältigen Ruf verholfen hat. „Natürlich gibt es auch Penner, die ‚ziellos herumstehen und auf gar nichts warten‘ “, äfft der 23-jährige Kevin M. mit mildem Spott über die mangelnde Anerkennung, die seinesgleichen entgegenschlägt. Aber in seinen Worten schwingt auch spürbar Enttäuschung mit. Kevin lungert an seinem Stammplatz vor McDonald’s am Hermannplatz und klappt wie zur Bekräftigung den Kragen zum Schutz gegen die schweren Regenschauer hoch: „Von wegen ziellos! Bei Wind und Wetter lungere ich hier herum, Tag und Nacht, sommers wie winters – da brauchst du eiserne Disziplin.“

Und die richtige Kleidung. C&A in der Karl-Marx-Straße sowie die zahlreichen Billigläden rund um Hermannstraße und Kottbusser Damm haben den Bedarf erkannt: schnell trocknende Lungerhosen mit tiefen Taschen, in denen man die Hände vergraben kann, Zigarettenschachteln und auch Messer, denn das Lungern ist nicht ungefährlich. Oft gibt es Streitigkeiten um die wenigen guten Lungerplätze vor Cafés und Imbissen – auch Straßenecken sind beliebt, weil man hier am besten gesehen wird. Den Engpass haben findige Köpfe erkannt und mit Mitteln des Senats und der EU florierende Lungereien eröffnet, die den Lungerern als Anlaufstellen dienen.

So viel Eigeninitiative lobt auch Wolfgang Schüttke, Neuköllner Stadtrat für Jugend, Sport und Lungern. Während wir dankbar den angebotenen Futschi schlürfen, zeigt der grau melierte Kommunalpolitiker stolz aus dem Fenster seines sonnigen Büros im vierten Stock auf den kleinen Platz direkt vor dem Rathaus: „Unser Prinzip heißt nicht mehr ‚von der Straße runter‘, sondern ‚rauf auf die Straße‘. Sehen Sie den Mann dort unten? Der hat vielleicht eine Karriere hinter sich: Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, ABM – ein Teufelskreis, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gab. Nun hat er es doch geschafft, jetzt lungert er da unten – nicht zuletzt dank der neuen Ecklungerei.“

Ebendort befragen wir den Betreiber Achmed Ö., was in seinen Augen eine gute Lungerei ausmacht. Erklärend weist der freundliche Türke auf die spärlich gefüllten Regale: „Von allem ein bisschen, von nichts genug!“ Wir begreifen: Es gibt Zeitungen, aber nur drei oder vier, eine einzige Sorte Fertiggericht, fünf Marken Alkoholika, Toastbrot, Schrauben, Gummibärchen sowie sieben Videos mit indischen Schmonzetten, davon sind vier Hüllen leer – nur die Zigarettenauswahl wirkt ergiebiger. Ein hagerer Mittvierziger erwirbt eine Packung Marlboro. Der könne uns eine Menge erzählen, zwinkert uns Ö. zu, und wir folgen dem Kunden nach draußen.

Bozidar K. ist ein alter Hase. Der 43-jährige Kosovokurde kennt sämtliche Kniffe, denn er lungert seit fast 25 Jahren – von einer kurzen Phase abgesehen, in der er sich als Karteileiche versuchte. „Hat mir nicht gefallen“, knurrt er, „lungern ist besser.“ Er teilt sich diesen Platz mit Stadtrat Schüttkes Liebling und beginnt soeben die zwölf Stunden dauernde Spätschicht. „Gegen Morgen fallen dir manchmal fast die Augen zu“, gesteht er, während er „auf Lunger raucht“, wie der Jargon das Rauchen während des Lungerns bezeichnet.

Das Rauchen ist ein integrativer Bestandteil des Arbeitsfeldes. Außer der Rauchpflicht gibt es weitere wesentliche Unterscheidungsmerkmale gegenüber Leuten, die einfach nur ziellos herumstehen und auf gar nichts warten: Während der Rauchpausen gehören die Hände unbedingt in die Hosentaschen; der Blick muss bei aller Müdigkeit stets argwöhnisch schweifen; pünktlich zur halben und zur vollen Stunde wird geräuschvoll der halbflüssige Teer ausgeworfen. Manche Teilzeitlungerer üben sich auch in saisonbedingten Verrichtungen, indem sie Passanten anniesen oder Frauen hinterherpfeifen.

„Ein geiler Job“, gerät K. ins Schwärmen über den sozialhygienischen Nutzen des Lungerns, das in erster Linie dazu dient, dass sich die Mitbürger vergleichsweise gebraucht und dadurch wohler fühlen. „Nur die Bezahlung könnte besser sein“, regt sich in dem erfahrenen Lungerer leise Kritik gegen den Nulltarif, „aber man kann im Leben nicht alles haben.“

ULI HANNEMANN